Pontresina

Wintermärchen? Was für ein Wintermärchen? Grün bzw. grau waren die Alpen über den Jahreswechsel 2006/7 und auch weit danach noch. Selbst den Schneekanonen war es fast überall zu warm. Mit einer Ausnahme, dem Engadin. Da hatte es noch rechtzeitig vor Weihnachten geschneit, und den Rest erledigten in den klirrend kalten Nächten Frau Holles Helfer, die Schneekanonen.

Der Mensch ist ein Gewohnheitstier. So war es mir nach fast 20 Jahren Kleinwalsertal schon schwer gefallen, mich für ein neues Winterquartier zu erwärmen. Trotzdem, das legendäre Ifen-Hotel wurde Ende 2005 dichtgemacht, und ich musste mich umorientieren.

Mit etwas Glück wurde ich zum vorletzten Weihnachtsurlaub dann noch ganz kurzfristig in Pontresina im traumhaften Engadin fündig. Und dort fragte ich mich dann schon nach wenigen Tagen, warum ich diesen Wechsel nicht schon lange vollzogen hatte.

Nichts gegen das Kleinwalsertal. Das ist ein herrlich gelegenes, gemütliches Hochgebirgstal mit sehr freundlichen Bewohnern. Aber das Bessre ist nun mal des Guten Feind. Und so verhält sich die Bergwelt des Engadin zum Kleinwalsertal so, wie das Kleinwalsertal zum Sauerland. Klar, St. Moritz ist sicher nicht jedermanns Sache. Zuviel Verkehr, zuviel Beton, zuviel neureiches Geld. Aber zum Glück gibt es im Engadin reichlich Alternativen.

Ich war in Pontresina gelandet, einem überschaubaren, ruhigeren Ort. Grund war mein hoffentlich neues Stammquartier, das Hotel Walther. Nicht nur von außen hat dieses Hotel etwas von einem Märchenschloß. Von außen klassisches, sehenswertes Grand Hotel, von innen neben großzügigen Belle Epoque Hallen ein hochmodernes Wellnesshotel mit hohem kulinarischen Anspruch. In dritter Generation von der Inhaberfamilie Walther sehr engagiert geführt. Ein absolut mustergültiges Relais & Chateau. Unterstützt werden die liebenswerten Gastgeber von einem hochmotivierten Team, das den Gästen mit viel Geschick jeden Wunsch von den Augen abliest.

Hotel Walther in Pontresina

Hotel Walther in Pontresina

Auch und gerade Weinfreunde werden sich in diesem Hause sehr wohl fühlen. Zur hervorragenden Küche des Hauses gibt es eine klug zusammengestellte, maßvoll kalkulierte Weinkarte, auf der man innerhalb 2 Wochen ohne Wiederholungen reichlich fündig werden kann. Sehr gut die Auswahl an Schweizer Weinen. Ein toller Tropfen war der 2005 Merlot Bianco Rovere von Guido Brivio. Ein sehr nachhaltiger Weißwein mit feinen weißen Früchten, Honigmelone, den Röstaromen des Barrique 92/100. Der hatte mir schon im letzten Jahr als 2004er gut gefallen, aber 2005 legt da noch eins drauf. Herrlich saftig und frisch ein ebenfalls im Barrique ausgebauter 2004 Fläscher Chardonnay aus der Bündner Herrschaft von Andrea Davaz mit reifer Birne, floralen Aromen, viel Struktur und Finesse. Sehr guter Essensbegleiter 91/100. Der 2005 Malanser Sauvignon Blanc Reserve von Salis hatte eine etwas parfümiert wirkende Nase und war sehr frisch mit der klassischen Sauvignon Blanc Aromatik, Cassis, Stachelbeere und intensiv Holunderblüte, sicher ein Wein, der jung getrunken gehört 88/100. Ein echter Show-Stopper der 2004 Pinot Gris von Adolf Boner aus Malans, ein Klassewein mit fülliger, fruchtiger Aromatik 93/100. Frisch, schlank, mit reifer Aprikose ein 2004 Petite Arvine von Bonvin aus Sion 89/100. Unter den Roten aus der Schweiz gefiel ein ungewöhnlicher 2005 Humange Rouge, ebenfalls von Bonvin. Faszinierende Nase mit pfeffriger, pflaumiger Frucht, Schokolade, Veilchen und Karamell, auch am Gaumen viel Karamell, wie ein junger/reifer Rioja, dazu etwas Pinot Affinität, weich und rund am Gaumen mit wenig Säure, gehört sicher jung getrunken 90/100. Etwas simpel gestrickt der sehr schokoladige 2004 Roncaia Merlot Vinatieri Ticinesi 88/100. Der 2004 Pinot Noir von Boner bot viel Kraft und Fülle, kam aber nicht mit dem geilen 2003er mit, von dem wir im Vorjahr etliche Flaschen vernichtet hatten 90/100.

Meine charmante Tasting Crew

Meine charmante Tasting Crew

Viel Mittelmaß auf der Karte bei den Bordeaux, aber bei einer Karte, die nicht auf vor längeren Jahren getätigten Einkäufen und einem entsprechenden Keller beruht, ist im bezahlbaren Segment bei Bordeaux ja kaum noch etwas anderes zu erwarten. Typisch dafür Chateau Carbonieux, den wir am ersten Abend weiß wie rot tranken. Das ist so ein Wein, bei dem stirbt man nicht, wenn man ihn trinkt, aber man stirbt auch nicht, wenn man ihn nicht trinkt. Am ehesten überzeugte noch 2003 Carbonnieux Blanc. Trotz der Fülle des 2003er Jahrgangs erstaunlich frisch und balanciert mit weißen Früchten, leichter Bitternote, nasse Steine, gute Länge 89/100. Zum jung trinken ein feiner Wein, nur gibt es in Preislagen darunter aus anderen Gebieten deutlich Besseres. Das ist eben das große Problem von Bordeaux heute, die Top-Weine ziehen das allgemeine Preisniveau mit nach oben, und der Mittel- und Unterbau saufen im Markt ab. Langeweile im Glas beim 2000 Carbonnieux Rouge. Klar war da, wie in so einem großen Jahrgang wie 2000 selbst bei kleinsten Weinen nicht anders zu erwarten, viel reife Frucht und auch Kraft, nur zeigte sich das alles auf eine eindimensionale Art ohne Finesse 87/100. Da gefiel mir der tieffarbige 1999 Pontet Canet schon deutlich besser, für 99 erstaunlich kräftig mit guter Tanninstruktur und Länge, ein kerniger Lehrbuch-Pauillac mit viel Biß, guter Frucht, Cassis, Brombeere und Pflaume, aber auch etwas Lakritz und Bitterschokolade. Trinkt sich wie fast alle 99er derzeit bereits sehr schön, hat aber noch Reserven für lange Jahre 91/100. Als bereits gut trinkbar entpuppte sich auch 2001 Lynch Bages mit seiner würzig-üppigen Frucht und seiner wunderbaren Fülle am Gaumen, macht wie viele der modernen Lynch Bages einfach unglaublich viel Spaß 92/100. Beim 2003 Phélan Ségur hätte ich blind auf einen großen Merlot getippt, schokoladige Nase, auch am Gaumen sehr schokoladig, üppiger und breiter als 2000, aber mit guter Struktur und in bestechender Frühform 92/100. Deutlich jünger mit dichter Farbe und viel Röstaromen sowie einem Schuß Espresso wirkte 2001 Brane Cantenac, der am Gaumen samtig weich mit feiner Frucht war. Baute im Glas rasch aus und wurde dichter, voller, dabei aber auch internationaler und langweiliger 88/100. Ich weiß ja, dass es in der Schweiz auf Wunsch alles mit Käse gibt, aber auch Kaffee? Diese doch sehr seltsame Aromatik verströmte der 1998 Prieuré Lichine, der in der Nase genau diese Mischung zeigte, am Gaumen noch käsiger war, dazu ungenerös, etwas säuerlich und kurz im Abgang 82/100. Margaux meets California notiete ich mir bei 1998 Palmer. Ein moderner, offener voll trinkbarer Palmer mit satter, pflaumiger Frucht und einem guten Gerüst reifer, aber weicher Tannine 91/100.

Der Schutzpatron über unserem Tisch

Der Schutzpatron über unserem Tisch

Servicechef Dino Martelli und seine meist aus Italienern bestehende, sehr kompetente und aufmerksame Crew freute es natürlich am meisten, wenn man einen der zahlreichen Weine aus ihrer Heimat bestellte, so z. B. den fruchtig-frischen, leckeren und unkomplizierten 2003 Terre di Tuffi 88/100. Beim 2004 Vigna di Gabri von Donnafugata notierte ich eine feinfruchtige Nase, am Gaumen rauchige Töne mit bissiger Säure und eine ungehobelte, etwas rustikale Art. Das war einfach der falsche Wein an der falschen Stelle. Der gehört in Sizilien bei untergehender Sonne unter einem Olivenbaum mit Blick übers Meer getrunken. Da kommen dann locker 90/100 ins Glas, hier waren es nur 83/100. Eine Art Edellandwein der ebenfalls rustikale 2003 Tancredi von Donnafugata, Die tieffarbige Cuvée aus Nero d Avola und Cabernet Sauvignon hatte viel dunkle Frucht und Lakritz und strotzte vor Kraft 87/100. Gut zu trinken war der 2003 Campaccio Riserva von Terrabianca. Von Röstaromen geprägte, fruchtige Nase mit schwarzer Johannisbeere und Brombeere, am Gaumen elegant, aber auch etwas leichtgewichtig mit guter Säure 89/100. Und natürlich war auch ein 1999 Sassicaia auf der Karte, den uns der liebenswerte Fabio mit stolz geschwellter Brust servierte. Das war beileibe kein schlechter, aber ein hoffnungslos überteuerter Wein. Was da unter dem Siegel Eleganz und Finesse verkauft wird, stammt einfach von einem gnadenlos ausgebeuteten Weinberg nach dem Motto "den Ruhm haben wir ja schon, jetzt wird kassiert". Anspruch, Preis und Wirklichkeit passen bei Sassicaia seit Anfang der Neunziger nicht mehr zusammen. Klar, das war ein schön zu trinkender, feinduftiger, eleganter Wein mit Kaffeetönen und jugendlichen Röstaromen, aber am Gaumen fehlten einfach Spannung und Struktur, für ein Gewächs dieser Preisklasse ist der Sassicaia einfach zu dünn 89/100. Ganz anders der 1999 Solaia, denn wir auf der anderen Straßenseite nach einer anstrengenden Schneeschuhwanderung in einem Café tranken. Ein echter Aristokrat! Mit welcher Distinguiertheit und Eleganz hier viel Kraft und reife Kirschfrucht ins Glas kamen, mit feinen Barrique- und Zedernholznoten, sehr nachhaltig, komplex mit sehr guter Länge am Gaumen, das war schon Weltklasse 95/100. An diesem großartigen Wein mit Potential für 20+ Jahre, der auch als 1er Cru aus Bordeaux durchgehen würde, könnten sich sowohl die zahllosen, überbordenden und kurzlebigen Super-Toskaner als auch Sassicaia ein Beispiel nehmen. Der vielleicht schönste Wein aus der Walther-Karte war der ebenfalls von Antinori stammende 2001 Tignanello. Der war in einer unwiderstehlichen, hedonistisch-offenen Jungweinphase mit dichter, reifer, süßer Frucht, mit Marzipan und Espresso, explosiv am Gaumen, dabei aber nicht plump, sondern mit einer unglaublichen, seidigen Länge 94/100.
Nicht vom Hocker rissen mich die spanischen Weine der Karte. Der 2002 Alidis Tinto Crianza Barrica von Vina Mambrilla hatte eine leicht animalische Nase, dunkle Früchte, tiefdunkle Farbe, am Gaumen Rumtopf, sehr alkoholisch und etwas monolithisch und korpulent wirkend 88/100. Aber an diesen Stil und vor allem an die hohen Alkoholgrade müssen wir uns vor allem mit dem Jahrgang 2004 wohl bei Spanien gewöhnen müssen. Easy Drinking brachte der 2002 Tinto Pesquera ins Glas. Ein sehr gefälliger, jetzt gut zu trinkender Wein mit würziger, guter Frucht, verstärkt durch die Röstaromatik der süßen amerikanischen Eiche, aber die Struktur und Klasse früherer Pesqueras hat er nicht und auch nicht deren Haltbarkeit 90/100.
Von den preiswerten Neue Welt Weinen habe ich nur zwei probiert. Sehr enttäuschend der 2003 Neil Ellis Chardonnay. Stahlige Frucht, metallische Töne, da kam die Frucht wohl aus der Dose 85/100. Sein Geld dreimal wert war ein simpler 2003 Beringer Cabernet Sauvignon Founder s Estate. Der hatte so eine leckere, würzig-cremige Frucht und lief den Gaumen runter wie Öl 90/100.
Und Silvester? Da hatte ich pünktlich zum Gongschlag den 1995 Dom Perignon im Glas. Soll doch alle Welt dem hochgelobten 96er hinterher rennen. Das hier war sehr nachhaltiger, kräftiger, facettenreicher Champagner vom Allerfeinsten mit noch viel Potential 95/100.

Ganz erstaunlich, was das Engadin weinmäßig sonst noch so bietet. Da muss man sich nicht auf der mondänen Corviglia mit Familie Neureich um den überteuerten Petrus schlagen. Hier bietet fast jedes Gasthaus eine mehr als anständige Weinkarte. Wer auf einer Wanderung sommers wie winters ins malerische Fextal kommt, sollte unbedingt das Hotel Fex miteinplanen. Auch ein Ausflug ins wildromantische Roseggtal kann man im dortigen, heimeligen Restaurant mit ebenso mit einer Weintrouvaille von der guten Karte krönen, wie einen Ausflug zum Morteratsch-Gletscher mit dem dortigen Restaurant.
Der schönste Platz im Engadin aber und sicher einer der schönsten in den Alpen überhaupt ist Muottas Muragl. Hier gibt es in über 2500 Metern Höhe nicht nur spektakuläre Winterwanderwege mit unglaublicher Aussicht. Das Restaurant der Bergstation bietet drinnen wie draußen eine sehr schmackhafte Küche und eine fantastische Weinkarte. Dort in der Mittags- oder Nachmittagssonne sitzen zu dürfen, mit dem kompletten Engadin zu Füßen und einem funkelnden Tropfen im Glas, das ist der Himmel auf Erden. Natürlich waren wir da nicht nur einmal. Zumal die Schneelage es zuließ, den kompletten Weg von Pontresina und Retour zu Fuß zurückzulegen. Mit einer 2001 Lieser Niederberg Helden Riesling Auslese* vom Schlossgut Lieser starteten wir dort in unser (nach)mittägliches Weihnachtsmenü. Immer noch gute Säure und knackige Frucht, hoher Extrakt 90/100. Und als die Nachmittagssonne die noch nicht zugefrorenen Engadiner Seen in gleißendes Licht tauchte, da hatten wir den traumhaften 2001 Eneo von Montepeloso im Glas (92/100) und den sympathischen Winzer Fabio Chiarelotto am Telefon. Ein andermal starteten wir mit einem 2005 Chardonnay Selvenem von Donatsch. Noch verdammt jung, kräftig, sehr gut strukturiert mit guter, exotischer Frucht, steckte das viele Holz des Barrique-Ausbaus mit links weg und dürfte sich über etliche Jahre gut entwickeln 92/100. Einen ganzen Wald voll Zedernholz brachte der 2000 Phélan Ségur ins Glas, dazu eine schöne Minzfrische, rund und lang am Gaumen, kein zweiter 1990er, aber ein traumhaft balancierter Wein 93/100. Und dann entdeckten wir am Silvesternachmittag, als wir uns eigentlich für das abendliche Galamenü schonen wollten, auf der Karte einen 1989 Krug. Das war ein vinologisches Hochamt, mit dem wir das alte Jahr verabschieden und uns beim Herrgott für die vielen schönen Tropfen des Jahres 2006 bedanken konnten. So ein komplexer, vielschichtiger Champagner mit so einer irren Länge am Gaumen. Ich bin kein großer Champagnerfan, aber bei diem riesengroßen Teil, das gerade anfängt, gut trinkbar zu werden und sich dann wohl die nächsten 30 Jahre weiterentwickeln wird, verdrehten nicht nur meine Mädels die Augen 97/100.

Sonnenuntergang auf Muottas Muragl

Sonnenuntergang auf Muottas Muragl

Zu meinen aktuellen Verkostungsnozizen aus dem Weihnachtsurlaub 2007/8 geht es hier.