Schmecken so 20/20 Punkte?

Zu Marc Veyrat, dem legendären französischen Spitzenkoch, wollte ich immer schon mal. Zweimal 3 Michelin-Sterne und die sonst noch nie vergebene Idealnote von 20/20 im GaultMillau sind schließlich ein Wort. Auf diese Küche, die von selbst gesammelten Almkräutern geprägt sein sollte, war ich sehr gespannt.
Aber wie bekommt man in so einem Haus einen Tisch, noch dazu kurzfristig und an einem Wochenende? Da gibt es einen simplen Trick, der überall dort funktioniert, wo das Restaurant auch Hotel ist. Zimmer und Tisch zusammen buchen, denn Hausgäste erhalten immer eher einen Platz. Im Falle Marc Veyrat bot es sich sowieso an, da sein Haus sehr idyllisch, aber doch fern der nächsten Stadt, am traumhaft schönen Lac d Annecy liegt.
Also angesichts eines ohnehin geplanten Kurzurlaubs in den Walliser Bergen ein paar Tage vorher angerufen. Aber ja, flötete eine freundliche junge Dame am Telefon. Ein schönes Doppelzimmer zur Seeseite könne sie mir natürlich anbieten und passend dazu auch einen Tisch. Welches Glücksgefühl auf meiner Seite, aber hatte sie nicht etwas von 605 Euro gesagt? Ich wollte eigentlich keine ganze Etage mieten, war meine spontane Antwort. Nein, das sei der normale Preis für ein Zimmer, wurde mir entgegnet, natürlich gäbe es auch noch höherwertige (und natürlich noch teurere) Suiten und Appartements. Schluck, das war ein Hammer, aber wann würde sich die Gelegenheit wieder bieten? Also schweren Herzens zugeschlagen. Ich bin kein Hoteltester, aber wenn man sich zu diesem astronomischen Preis zu Zweit eine Bettdecke teilen muss, und neben anderen Nickeligkeiten die Klimaanlage nur heizt, dann ist das mehr als ärgerlich. Dafür befand sich im Zimmer ausgiebiges Infomaterial zu Marc Veyrat mit seiner kompletten Lebensgeschichte. Ein gnadenloser Selbstvermarkter, der in diesem Punkt einem Johann Lafer in nichts nachsteht. Wahrscheinlich zieht er seinen schwarzen Schlapphut, fester Teil seines Markenzeichens, nicht mal Nachts oder auf dem Stillen Örtchen aus.
Nach dem Hotel konnte uns die Speisekarte kaum noch schocken. Für 2 Personen war zusammen noch mal der gleiche Betrag auf den Tisch zu legen wie fürs Zimmer, wobei es auch noch ein teueres Menü gab. Dazu dann passend eine glasweise Weinempfehlung des Sommeliers, 5 Weine für atemberaubende 245 Euro pro Person. Da ließ ich mir dann doch lieber die Weinkarte geben, ein dickes Buch mit sicher gut 1000 Positionen, das in der Preisgestaltung zum restlichen Haus passte. Ich kam aus dem Stauen nicht heraus, was da für bessere Weine aufgerufen wurde. Doch € 2100 für einen Chateau Margaux waren ebenso wenig mein Ding wie € 400 für einen Clos St. Hune. Also zunächst ab in überseeische Niederungen. Ein überaus bezahlbarer 2003 Windy Peak Riesling aus Australien entpuppte sich als erstaunlich schlanker, frischer Essensbegleiter mit einer floralen Nase und Zitrusaromen bei sympathischen 12,5 % Alkohol 87/100. Sehr ansprechend auch ein 2003 Hamilton Russel Chardonnay aus Südafrika. Kein typischer, überholzter, buttriger Allerwelts-Chardonnay, sondern ein eigenständiger, mineralischer, frischer, fruchtbetonter Wein mit gut integriertem Holz. Ebenfalls ein sehr guter Essensbegleiter 88/100. Aus einer halben Flasche konnte auch ein 2001 Côte Rotie von Jamet überzeugen. Ein sehr extraktreicher, fleischiger Côte Rotie mit schwarzbeeriger Frucht, mineralischen, erdigen Noten und guter Tanninstruktur. Noch ganz am Anfang, aber aus der Halben schon gut trinkbar 90/100.
Weniger begeistern konnte uns das 15-gängige Menü. Natürlich waren da ein paar überraschende, spannende Sachen drunter. Aber insgesamt basierte die Küche auf viel Effekthascherei, eine Art französischer El Bulli-Verschnitt. Da gab es dann Gerichte in einer Art Milchtüte oder in einer Konservendose, wie ich sie noch aus den E-Packs der Bundeswehr kenne. In der Milchtüte befand sich eine "destrukturierte, virtuelle Tartiflette", ein eigentlich klassisches Savoyer Gericht aus Kartoffeln und Reblochon, das in der hier präsentierten Form überhaupt nichts mehr mit dem Original zu tun hatte und einfach nur schlabberig und seltsam war. In der Konservendose , von Veyrat als "Konserve, wie sie sich mein Vater immer gewünscht hätte" bezeichnet, befand sich nach Karte eine Art Krustentier-Blutwurst mit Salbei. Sehr wabbelig war das und schmeckte eher wie eine zu lange gekochte Weißwurst. Zum Beißen war im wahrsten Sinne des Wortes fast nichts unter den Gerichten. Die Alpenkräuter, auf die ich so gespannt war, befanden sich in irgendwelchen Emulsionen, die aus kleinen Röhrchen über die Gerichte gegossen wurden oder noch besser in Spritzen! Das komplette Menü wirkte wie eine große Babybrei-Verkostung. Ich habe spontan auf der Speisekarte ein Kukident-Siegel gesucht. Das hier dargebotene konnte man nicht nur mit den dritten Zähnen essen, sondern problemlos auch völlig ohne. Ob da in der Küche eine ganze Batterie dieser genialen Vorwerk-Mixer stand? Einzige Ausnahme war neben der prachtvollen Savoyer Käseauswahl das Brot, dessen sich der Meister in der Neuerfindung von Gerichten noch nicht angenommen hatte. Aber nach Ravioli ohne Teig, Cannelloni ohne Eier und Mehl und Eigelb ohne Ei kommt dann im nächsten Jahr mit Sicherheit auch das Brot ohne Mehl, mit dem Strohhalm zu schlürfen aus kleinen Fläschchen. Schlichtweg verarscht fühlten wir uns auch von dem, was da zum Schluß als "Nos crèmes br lées sensibles aux fleur des champs" auf den Tisch kam. Natürlich hatte das mit der klassischen Crème Br lée nichts zu tun. Vor uns standen drei belanglose Puddings, das wars.
Zu jedem Gang gab es vom Service eine Anleitung, in welcher Form er denn zu essen sei, damit der gewünschte geschmackliche Effekt auch eintrat. So musste man natürlich bei zwei winzigen Hummer-Medaillons zeitgleich jeweils auf eine Art Eisenkraut-Knallerbse beißen. Ganz nett und interessant, aber vom Eigengeschmack des Hummers blieb dabei nicht viel übrig.
Die einzelnen Gänge kamen wie am Fließband für alle Tische ziemlich gleichzeitig aus der Küche. Wer da mal, wie ich, eine 10minütige Auszeit für ein Telefonat nahm, verpasste einfach einen Gang. Ich habe so etwas noch nicht erlebt. Meine Frau, die am Tisch geblieben war, sah, wie unsere beiden Portionen auf eine Art große Anrichte kamen und nach ein paar Minuten wieder weggeräumt wurden. Weder bekam wenigstens sie Ihren Gang, noch wurde dieser später nachgeholt. Unglaublich für ein Restaurant dieser Klasse! Marc Veyrat selbst scheint mit der Küche nicht mehr viel zu tun zu haben. Er befand sich mit seinem schwarzen Schlapphut die meiste Zeit im Saal und wanderte ziemlich lustlos von Tisch zu Tisch. Vielleicht hat er in seinem Innersten diese kulinarische Artistik und Effekthascherei längst mindestens so satt wie wir. Aber er hat keine Chance. Mit einer im besten Sinne bodenständigen Küche auf höchstem Niveau(eigentlich gibt er ja vor, die Küche und Aromen seiner Kindheit auf einer Hochalm neu zu präsentieren) hätte ein Marc Veyrat bei den Gourmet-Kritikern dieser Welt keine Chance. Die geilen sich mit den vermeintlichen Spitzenköchen dieser Welt gegenseitig weiter auf. Immer kunstvoller, immer verfremdeter, immer exotischer, immer artistischer muss sein, was auf den Teller kommt. Sonst gibt es keine Sterne, keine Punkte, keinen Ruhm und keine Ehre. Der Gast bleibt außen vor.
Oder liegt es doch nur an meinem simplen Gemüt, an meinem einfachen Geschmack, dass ich da nicht mehr mitkomme und auch nicht mit will? Vielleicht war das bei Veyrat ja auch nicht nur Esstheater, sondern eine Fortbildungsveranstaltung. Lehrgeld habe ich jedenfalls genug bezahlt.
Mit dem Bezahlen ging es am nächsten Morgen weiter. Sage und schreibe 60 Euro wurden pro Person zusätzlich zum Zimmerpreis fürs Frühstück verlangt. Das kann sehr viel, aber auch angemessen sein. Ich erinnere mich an ein sensationelles Frühstück aus der Blütezeit der Schweizer Stuben in Wertheim. Da gab es zahllose zusätzliche Gänge, mit denen man das Frühstück zu einem umfassenden Gourmet-Brunch auf höchstem Niveau erweitern konnte. Erwartungsvoll kamen wir am nächsten Morgen ins Restaurant und wurden an einen nicht eingedeckten Tisch gesetzt. Nach längerer Wartezeit kam dann zunächst ein unspektakulärer Brotkorb. Kurz danach kam dann ein Kellner mit einer Art Picknickkorb, stellte diesen samt einem Brett mit etwas Käse und Wurst neben unseren Tisch und wünschte "Bonne Degustation". Einigermaßen sprachlos packten wir den Korb aus und deckten unseren Tisch ein. Im Korb befanden sich neben Tellern, Tassen und Besteck 2 Eier, Quark, diverse Marmeladen, als einziges Obst etwas marinierter Apfel, 3 Fläschchen mit pürierten Obstsäften und als unspektakulärer und zudem zu kalter Höhepunkt etwas getrüffeltes Rührei.
Bedarf es zu diesem Erlebnis noch eines Fazit? Sicher nicht.