105 Jahre alt und quietschfidel

Ende Oktober war es, die Uhren waren umgestellt, die Gartenmöbel weggeräumt, überall türmten sich Berge von Laub. Es war nun mal unweigerlich Herbst. Nur war uns nicht nach Allerheiligen, sondern eher nach "Allerweinen", Zeit also für eine schöne Probe, in der dieser 105 Jahre alte Leoville las Cases wohl der Höhepunkt war.

Mit einem Schluck 2007 Malterer von Huber begrüßte uns Franz Josef Schorn. Der war völlig zugenagelt(nicht der Franz Josef, sondern der Wein) und machte keinerlei Freude. Ich bin ein großer Fan dieses Malterer, der in seiner Stilistik durchaus an bessere Burgunder erinnert und einen guten Piraten für entsprechende Proben abgibt. Nur muss er dafür halt 4-5 Jahre alt sein. Um junge Malterer, wie sie ja auf den meisten Restaurantkarten stehen, mache ich inzwischen einen großen Bogen. Wunderschön trinkt sich jetzt z.B. der 2005er.

Lange rätselten wir, aus welchem deutschen Anbaugebiet denn der Riesling kommen könnte, mit dem unsere eigentliche Probe begann. Aus keinem, nur der Winzer stammte aus Deutschland. Der 2007 Riesling Eroica Chateau St. Michelle von Dr. Loosen stammte aus dem amerikanischen Bundesstaat Washington. Etwas verhalten in der Nase, sehr mineralisch, stahlige, kühle Frucht, kräftige Säure, trotz 16g Restzucker harmonisch trocken wirkend, ein spannender Wein, der in 2-3 Jahren deutlich mehr zeigen wird 87+/100. Gülden in der Farbe war die 1966 Schloss Johannisberg Rosalack Allerheiligen Eiswein Auslese Braut des Jahrgangs. Malzig-rosinig die Nase mit reifem Apfel und etwas Karamell, Bratapfel wäre wohl die passende Beschreibung, am Gaumen harmonisch und rund mit guter Säure, wiederum karamellig und dezenten, ersten Alterstönen, wird sich auf diesem Niveau sicher noch eine Weile halten 90/100. Überhaupt nichts mehr los war mit einem Experiment, einer 1959 Niersteiner Hummerthal Riesling Spätlese des Weingutes Georg Korth. Faszinierend zu Anfang die an Crêpes Suzette erinnernde Nase mit viel exotischer Frucht, am Gaumen baute dieser Wein sehr rasch ab, wurde diffus-süß und erinnerte allenfalls noch an billigen, kalten Glühwein 78/100. Absolut stabil und ohne spürbares Alter stand der goldgelbe 1968 Y von Chateau d Yquem im Glas. Dieser trockene Wein, der nur in Jahren mit schwach ausgeprägter Edelfäule erzeugt wird, bot in der fruchtigen, süß wirkenden Aprikosennase das volle Sauternes-Programm. Am Gaumen war er absolut trocken mit guter Säure, sehr kräftig, alkoholreich und lang im Abgang. Dürfte noch einiges an Alterungspotential haben und ist für in 1968 Geborene sicherlich ein Winner 90/100.

Gleich zweimal hatten wir mit großen Namen ausgesprochenes Pech. Eindeutig fehlerhaft schien der 1989 Dalla Valle Maya zu sein. Die diffuse Nase mit deutlichen Liebstöckeltönen passte einfach nicht zur sehr dichten, jungen Farbe, Frucht war völlig Fehlanzeige, hier war wohl ein übler, schleichender Kork am Werk. Ein ähnliches Schicksal ereilte uns auch beim 1978 Barbaresco Costa Russi von Gaja. Man konnte trotz eines üblen, immer stärker werdenden Korks noch erahnen, dass das in gutem Zustand ein gewaltiger Wein mit viel Substanz, Minze und schöner Süße ist. Aber zum Ahnen waren wir ja nicht hier, wir wollten trinken.

Trinken konnte man den nachfolgenden 1986 Grand Puy Lacoste schon, nur kam dabei so keine rechte Freude auf. Rauchig, animalisch, kräftig und dicht mit viel Tannin und wenig Frucht war dieses Zeugs, aber der sprichwörtliche GPL-Charme fehlte völlig 89/100. Da sind wohl noch mal 10 Jahre Warten angesagt. Ganz anders 1986 Gruaud Larose, der in dieser Flasche schon stückweit entwickelt war. Immer noch jugendliche Röstaromatik, reichlich Cassis und dazu ein Schuss Espresso, mächtige, aber reife Tannine, ein kraftvoller, großer Bordeaux, der über die nächsten 10 Jahre weiter zulegen wird und die Mitte dieses Jahrhunderts durchaus noch erleben könnte 95+/100.

Zu einem Traumflight braucht es Traumweine in sehr gutem Zustand und natürlich gehöriges Flaschenglück. Das alles hatten wir in einer wunderbaren Paarung aus 1952 La Mission Haut Brion in einer Vandermeulen-Abfüllung und einem 1953 Haut Brion in einer belgischen Händlerabfüllung. Zu Anfang die klare #1 der La Mission, so süß, so reif, ein erotischer 99/100 Traum mit burgundischer Pracht und Fülle, dabei immer noch kräftig und mit der klassischen Cigarbox-Aromatik. Erinnerte an die besten Flaschen dieses Weines und die legendären Duelle La Mission 52 gegen 55 Mitte der 90er aus Vandermeulen-Abfüllungen, die der 52er auf höchstem Niveau mehrfach für sich entschied. Auch der Haut Brion sah diesmal zu Anfang im Vergleich gegen den La Mission alt aus, holte aber mächtig auf. Das war der kräftigere, sicher noch langlebigere von den beiden, in der Nase mit Tabak, Teer und Cigarbox ohne Ende, sehr ätherisch und mit immer mehr Minze und Eukalyptus. Auch am Gaumen baute der Haut Brion enorm aus, kraftvoll mit toller Struktur und ewiger Länge 98/100. Macht es in dieser Form sicher noch ein Jahrzehnt und länger.

Nach einem solchen Mörderflight als Nächster dran zu sein ist natürlich Höchststrafe. Und trotzdem schlugen sich die beiden nächsten Kandidaten mehr als nur wacker. 1996 Cheval Blanc hatte zu Anfang eine leicht laktische Nase, die sich am Gaumen als Emmi-Kirschjoghurt mit Schokolade fortsetzte, baute in atemberaubendem Tempo aus und wurde immer weicher und zugänglicher, ja geradezu schmusig mit faszinierender Aromatik, feinstes Cashmere für den Gaumen mit sehr reifen, weichen und geschmeidigen Tanninen 94/100. Habe ich noch nie so zugänglich im Glas gehabt, doch die gute Struktur und das intakte Tanningerüst sorgen dafür, dass hier der Spaß zumindest die nächsten 2 Jahrzehnte nicht aufhört. Ein klarer Schocker war bei 1986 Haut Brion zu Anfang die Nase, Brett ohne Ende, Kloaka Maxima, als ob jemand ins Glas gesch.... hätte. Doch das ging vorbei und verschwand völlig. Dieser Haut Brion muss halt etwas länger vorher dekantiert werden. Aus Brett wurde die klassische, ätherische Cigarbox-Aromatik, auch am kräftigen, von massiven Tanninen dominierten Gaumen öffnete sich der Haut Brion, blieb aber ein kerniger, edel-rustikaler Wein mit langer Zukunft 95/100. Von sehr zugänglich bis völlig zugenagelt habe ich bei 86 Haut Brion in den letzten Jahren schon alle Schattierungen erlebt. Dieses hier war eine der offeneren Flaschen. In jedem Fall ist 86 Haut Brion aber ein Wein mit Langstreckenpotential.

Unsere Nasen steckten noch tief in den Gläsern der beiden Weine, da kam Franz Josef aufgeregt die Kellertreppe hochgeschossen. Macht sofort ein Glas leer, der nächste Wein muss schnell getrunken werden. Ein klassischer Fehlalarm, vielleicht auch ausgelöst aus Ehrfurcht vor dem biblischen Alter dieses 1904 Leoville las Cases in einer Eschenauer-Abfüllung. Klar die relativ helle Farbe, zu Anfang leicht käsig die Nase, was schnell verschwand, stattdessen Trüffel, frische Waldpilze, Leder und Minze, vor allem aber eine filigrane, süße, betörende, reintönige Frucht, Himbeere und Erdbeere. An einen großen Burgunder erinnerte dieser Bordeaux, seidig, elegant, mit einer faszinierenden Leichtigkeit, blieb nicht nur absolut stabil im Glas, sondern baute sogar aus, ein unwiederbringliches, großartiges Weinerlebnis, dem die 97/100, die ich ihm gegeben habe, eigentlich nicht gerecht werden. Hier stoßen die Punkteskalen endgültig an ihre Grenzen. Sie machen nur Sinn, wenn man Weine gleicher Art miteinander vergleicht. Würde ich z.B., könnte ich noch mal eine Flasche dieses Elixiers bekommen, die dann für eine Flasche eines modernen 99/100 Spaniers eintauschen? Nicht für eine ganze Kiste!

Etwas jünger, aber immer noch gut gereift ging es weiter. Als so eine Art Cheval Blanc aus St. Julien präsentierte sich der sehr aromatische 1950 Ducru Beaucaillou mit seidiger Fülle und schöner Süße. Klar war da mehr Herbst drin als Frühling, aber einfach ein wunderbares Altweinerlebnis eines Weines, der keinesfalls müde war und lange am Gaumen blieb 93/100. Eigentlich gilt ja 1950 als das Jahr des rechten Ufers, aber auch gut gelagerte Weine aus dem Medoc können immer noch enormen Trinkspaß bereiten. Deutlich kräftiger, jünger im anderen Glas 1966 Ducru Beaucaillou. Gute Frucht, viel Zedernholz, Leder und Minze, großartige Struktur und Länge, ein Langstrecken-Ducru mit etwas rustikalem Charme für 20 weitere Jahre. Wird sich dann vielleicht mal so präsentieren wie heute der 50er 93/100.

Immer noch sehr dicht und jung die Farbe des 1991 Beringer Cabernet Sauvignon Private Reserve. Eine gelungene Kombination aus Kraft und Eleganz mit minziger, süßer kalifornischer Frucht und genug Rückrat für 10 weitere Jahre 94/100. Noch eine Ecke drüber im anderen Glas der 1985 Phelps Insignia aus einer Zeit, als in Kalifornien noch große Bordeaux gemacht wurden, die nicht nur spielend altern konnten, sondern auch mussten. Rotbeerige Frucht, Minze und Schoko eines perfekten After Eight, Eukalyptus, einfach ein großartiger, sehr komplexer, vielschichtiger Wein 95/100. Wenn Sie einen solchen Wein noch nie getrunken haben, lassen Sie es besser. Sie fassen sonst keine der modernen, alkoholischen Fruchtbomben aus Kalifornien mehr an.

Staunen war dann wieder beim nächsten Wein angesagt. Helle Farbe, verschwenderische Süße, burgundische Pracht und Fülle, Kaffeenoten aber auch eine kräftige Prise Tabak, wie so ein hypothetisches Blend aus einem großen, reifen Burgunder und einem äquivalenten La Mission, blieb ewig am Gaumen und leider viel zu kurz im Glas 97/100. Dieser 1969 Musar, zeigte wieder deutlich, dass die älteren Musars nicht nur altern können, sie müssen es auch. Reiht sich mit 56 und 61 in die Musar-Legenden ein.

Ein sehr charmanter Kraftbolzen bildete den Schlusspunkt unserer "Allerweinen" Best Bottle. Ich habe damals den Kopf geschüttelt, als ich von den 20/20 meines lieben Freundes René Gabriel für den 2002 Mouton Rothschild hörte. Gut, das war hier noch ein verdammt junger, giftiger Stoff, aber mit unerhörtem, aromatischem Druck am Gaumen und allen Zutaten eines großen Mouton, mit toller Frucht und der klassischen Bleistift-Mineralität, dürfte jetzt wohl den Höhepunkt der Fruchtphase erreicht haben und sich irgendwann in der nächsten Zeit wieder verschließen. Das hier war jetzt meine bisher beste Flasche und sicher 96/100 wert. Möglich, dass in der Reife noch mal ein oder zwei Punkte dazu kommen. Ich werde in 15 Jahren davon berichten. (wt10/09)