28 Jahrgänge Leoville las Cases

Eine große Leoville las Cases Vertikale von und mit René Gabriel gab einen eindrucksvollen Überblick über die Entwicklung dieses 2me Cru aus St. Julien während der letzten 70 Jahre.

Nein, an diesem Abend im Hotel Waldheim in Risch am Zuger See sollte niemand zu kurz kommen. René Gabriel hatte als Tischwein eine 15 Liter Flasche 1998 St. Pierre bereitgestellt. Das war ein geradezu brachialer Cabernet alter Machart mit tiefdunkler Farbe, satter Brombeere, Teer, Minzfrische, sehr kraftvoll und im positiven Sinne rustikal. Jede Menge spannende Ecken und Kanten hatte dieser St. Julien, der auch als St. Estephe durchging und an klassische Montrose erinnerte 90/100. Leider stellte sich im Laufe des Abends ein immer deutlicher hervortretender Korkfehler ein. Doch etliche aus der Runde störte das nicht im Mindesten. Die hielten den St. Pierre für eine Art Tafelwein und tafelten auch mit Kork drauf los als gäbe es kein Morgen.

Faszination pur gleich bei den beiden ältesten Flaschen der Probe. 1928 Leoville las Cases war ein typischer Vertreter dieses Jahrgangs, kräftig, maskulin, immer noch mit deutlichem Resttannin und sehr guter Struktur, aber auch mit Süße und feinem Schmelz, kann in gut gelagerten Flaschen sicher die 100 Jahre voll machen 94/100. Deutlich weiter mit reifer, bräunlicher Farbe 1929 Leoville las Cases, der mit seiner betörenden Art ebenfalls ein seht typischer Jahrgangsvetreter war. Sehr fein, elegant, mit süßer, generöser Nase, dunkle Schokolade, Kräter, auch am Gaumen süß, allerdings auch mit hoher Säure, die von der Endlichkeit des Lebens kündet 96/100. Derzeit von beiden sicherlich der schönere Wein. Deutlich mehr hatte ich von 1934 Leoville las Cases erwartet, der aber auf hohem Niveau etwas verstockt wirkte. Noch recht jung die Farbe, auch das Tanningerüst intakt, schöne Frucht und etwas Süße in der Nase 91/100. Sehr konzentriert und kräftig 1945 Leoville las Cases, ein Wein zum Kauen mit wunderbarer Struktur und noch viel Potential, in der Nase offener, karamellig und malzig als am von kräftiger Säure und Tanninen gekennzeichneten Gaumen 94/100. Nicht mehr viel los war mit 1948 Leoville las Cases aus diesem ja auch nicht gerade prickelnden Jahrgang. Muffig-verstockt die Nase, säuerlich ungenerös der Gaumen, ein eher schwieriger Wein, der nur zum Essen kurz etwas aufblühte und dann zunehmend zerfiel 81/100.

Traumstoff dann 1953 Leoville las Cases, der mich mit seiner schmeichlerischen Eleganz an die großartige Comtesse dieses Jahrgangs erinnerte. So fein, so elegant, fast filigran mit zarter, ins Himbeerige gehender Frucht, einfach betörend und erotisch mit burgundischer Pracht und Fülle 96/100. Leider konnte man das von 1956 Leoville las Cases nicht sagen. Der war alt, grausig mit reichlich flüchtiger Säure und praktisch untrinkbar. Wenn so ein Wein hin ist, hilft fast nichts mehr. Fast? Ja, ich habe aus Versehen die neben meinem Tunfisch liegende Chilischote gegessen. Mein Gaumen fing sofort Feuer, und mir schwante für den Rest der Probe Böses. Da half kein Brot und auch kein Wasser. Nur dieser 56er wurde plötzlich trinkbar. Wenn Sie also im Keller irgendwelche Weinleichen haben, bei denen die damit verbundenen Erinnerungen eine schnöde Entsorgung verhindert, auf eine Chilischote beißen und dann runter damit. Und gelernt habe ich in dieser Probe auch, wie man den Gaumen zügig wider instand setzt. Eines der bezaubernden Mädels, die uns an diesem Abend verwöhnten, brachte mir ein großes Naturjoghurt. Das half Wunder und mein Gaumen war in kürzester Zeit wieder voll einsatzbereit. Sehr angenehm überrascht war ich von 1957 Leoville las Cases. Gut, das war jetzt kein Riese, und er wirkte am Gaumen auch etwas metallisch, aber da war auch eine feine, himbeerige Frucht, viele Kräuter, etwas Liebstöckel, Minze und eine schöne Süße 86/100. Pech hatten wir mit 1961 Leoville las Cases, einfach eine schlechte Flasche, oxidiert und hin. Aber zu den wirklich großen Weinen aus diesem Jahrhundertjahrgang hat der las Cases auch aus besseren Flaschen noch nie gehört. Ein feiner, kleiner Wein mit schöner Süße, aber wenig Konzentration am Gaumen war 1964 Leoville las Cases 90/100. Ohne den Regen zur Erntezeit, der viele Medocs dieses Jahres etwas wässrig machte, hätte das ein großer wein werden können.

Ein rustikaler Kraftbolzen mit viel Tannin, aber auch Kaffee und etwas Süße der nicht gerade charmante 1970 Leoville las Cases 88/100. 1971 Leoville las Cases hatte eine seltsame Nase, die eher an Schuhcreme denn an Wein erinnerte, am Gaumen war er etwas kurz und metallisch 84/100. Weiter ging es in der 70er Weingeisterbahn zu 1975 Leoville las Cases. Der roch wie Gin Tonic und nach Wacholderbeere, am Gaumen pelzig mit astringierenden Tanninen. Aufgeben würde ich diesen Wein trotzdem nicht. Wer ihn hat, sollte ihn noch mal 15 Jahre weglegen und mit dem Abschmelzen der Tannine auf ein Wunder hoffen 85+/100. Und dann kam mit 1978 Leoville las Cases der Wein, der wie bei vielen anderen Gütern auch ein Ende der langen Durststrecke ankündigte. Dichte, junge Farbe, Cabernet pur, Rasse und Klasse, leicht grüne Cabernet-Würze zwar, aber so fleischig, viel Zedernholz, ein Charakterstoff mit noch langem Leben 94/100. Da freue ich mich doch richtig auf die Jeroboam in meinem Keller! Feiner, fruchtiger, eleganter mit schöner, rotbeeriger Frucht der reife 1979 Leoville las Cases 91/100.

Und kann führte uns der vierte Flight des Abends in die 80er Jahre, in denen für mich die besten Leos der modernen Zeit produziert wurden, einschließlich natürlich des 90ers. Die moderne Kellertechnik hatte die Tannine im Griff, der Konzentrator war noch nicht im Einsatz, einfach eine Goldene Ära für Leoville las Cases und Bordeaux insgesamt. Eine Legende im Werden natürlich 1982 Leoville las Cases. Ich kenne dieses irre Geschoß noch aus der jugendlichen Fruchtphase, in der er die 100/100 locker wert war. Nach langer, total verschlossener Phase öffnet er sich seit ein paar Jahren wieder zögerlich. Auch in dieser Probe war das ein gewaltiges, immer noch sehr junges Konzentrat mit sehr präziser, glockenklarer Frucht, messerscharfer Struktur und irrer Dichte und Länge am Gaumen, bereitete bereits ungeheuren Trinkspaß, 97+/100, die 100/100 sind wider in Sicht. Deutlich besser kenne ich 1983 Leoville las Cases. Aus unserer Flasche hier war das ein kräftiger, sehniger, strenger, leicht animalischer Wein mit viel Brett in der Nase, dem Frucht und Trinkfreude etwas abgingen 87/100. In besseren Flaschen sind da bis zu 5 Punkte mehr drin. Grasig, grün, bissig und schwierig der 1984 Leoville las Cases aus diesem Unjahr 81/100. Was macht man mit einer solchen Flasche? Verkochen, verschenken, verkaufen oder die Schwigermutter damit vergraulen? Ich würde diesen Wein einfach 10 oder 20 Jahre vergessen. Ganz abmelden wird er sich so schnell nicht. Dafür ist zu viel harsches Tannin drin. Aber aus der langen Erfahrung mit alten Weinen weiß ich, das auch solcher Stoff später noch mal für eine Überraschung gut sein kann. Auch 2034 wollen noch Leute ihren 50. feiern und dann könnte das zwar kein großer, aber durchaus gut trinkbarer Wein sein. Großartig und der wohl beste Medoc-Wein seines Jahrgangs ist 1985 Leoville las Cases. Der hat Frucht, Fülle, Struktur und präsentiert sich einfach als großer, gereifter Wein in totaler Harmonie 95/100. Keine Eile! Warten ist hingegen bei 1986 Leoville las Cases angesagt. Der zeigte sich als ziemlich verschlossener Kraftbolzen, allerdings mit Potential ohne Ende. Mit süßer Frucht gab die Nase schon mal einen Ausblick auf das, was da mal kommen wird, am Gaumen dominieren immer noch mal die massiven Tannine 95+/100. Für mich ist dieser Wein ein Zwilling des 82ers und jede Suche wert. Ein Prachtstück zum jetzt und in den nächsten 20 Jahren trinken ist 1989 Leoville las Cases. Kein Hammerwein, wie die heutigen Leos, eher deutlich feiner, puristisch schön, Eleganz in Reinkultur mit sehr reintöniger Frucht, schöner Süße und das alles mit unglaublich präzisen Konturen, durchaus fleischig, aber nicht überladen mit fantastischer Länge am Gaumen 96/100. Nach wie vor jede Suche wert.

Letzteres gilt auch für 1990 Leoville las Cases, der stilistisch eher noch zu den 80ern gehört. Klar merkt man hier das heißere Jahr. Der 90er ist üppiger, exotischer, süßer mit einer geradezu wollüstigen, süßen Traumnase, auch am Gaumen mit weichen, süßen Tanninen, Opulenz ja, aber auch hier mit bemerkenswerter Struktur 96/100. Nicht so prickelnd sah es nach diesen beiden herausragenden Zwillingsjahren 89/90 in Bordeaux aus, und das galt auch für Leoville las Cases. Um die Jahrtausendwende war 1991 Leoville las Cases noch ein zwar kleinerer, aber sehr schöner Wein. Unsere Flasche hier zeigte nicht nur, dass das lange her ist. Sie war zudem wohl auch noch fehlerfaft, einfach eine grasig, gräuliche, abscheuliche Brühe 78/100. Nicht ganz so schlimm, aber ebenfalls grasig, grün mit reichlich Paprika statt Frucht 1993 Leoville las Cases, den ich inzwischen weder im Glas noch im Keller brauche 80/100. 1995 Leoville las Cases wirkte erstaunlich weit, üppig, weich mit pflaumiger Frucht, insgesamt auch etwas diffus 92/100. Wo war die Präzision früherer las Cases geblieben. Hier deutete sich eine gravierende Stilrichtung an, die sich wie übrigens bei vielen Bordelaiser Gütern in den nächsten Jahren fortsetzte. Der seinerzeit boomende, amerikanische Markt wollte fruchtigere, zugänglichere, frühreifere Weine, und die bekam er jetzt auch. Sehr modern wirkte entsprechend auch 1998 Leoville las Cases trotz guter Struktur, pflaumig wiederum die Frucht, generös mit viel Milchschokolade 93/100. Für den Jahrgang deutlich zu dick, zu fett und zu konzentriert 1999 Leoville las Cases, trotzdem aber ein nicht gerade preiswerter, dekadenter, üppiger Saufwein 91/100. Und dann war da noch als letzter im Bunde 2003 Leoville las Cases, eigentlich schon fast eine Karikatur von Bordeaux. Süße, ausladende, kalifornisch anmutende Frucht, üppige Fülle, aber keine Struktur. Mit klassischen Bordeaux hat dieser Wein, der wie viele diesen Jahrgangs schwach im Abgang ist und praktisch auf der Zunge verdunstet, nichts zu tun 92/100. Trotzdem, oder vielleicht gerade deshalb, wird dieser Wein seine Fans finden. Ich gehöre nicht dazu.

Fazit: die Suche nach alten, gut erhaltenen Leoville las Cases bis 1955 lohnt unbedingt. So habe ich auch außer den oben erwähnten schon sehr respektable Leos aus 1874, 1899, 1904 und 1921 getrunken(Verkostungsnotizen in den Jahrgangsübersichten). Danach wird es mit 78 wieder spannend. Aus den 80er Jahren sind 85, 89 und 90 zum Jetzttrinken eine Empfehlung, Geduldigere suchen nach 82, 86 und dem völlig unterschätzten, aber großartigen 88er. Von den jüngeren Jahrgängen sind sicher 1998 und 2001 interessant. 2000 hingegen hat sich in sein Schneckenhaus zurückgezogen und strebt wohl eine ähnliche Langstreckenkarriere an wie 82 und 86.