Die vorgezogene Bescherung

Ein Paukenschlag kündete sich für den Freitag des vierten Adventswochenendes an. "Lasst uns doch im Nagaya Essen gehen und anschließend bei mir noch ein paar alte Kalifornier trinken". Beides hörte sich ungemein reizvoll an. So trafen wir uns also im Düsseldorfer Restaurant Nagaya, das als erstes japanisches Restaurant in Deutschland gerade einen Michelin-Stern erhalten hatte. Eigentlich wäre dieser Stern ja nichts Besonderes, denn keine Stadt hat so viele hochbesternte Restaurants wie Tokio. Ungewöhnlich ist daran nur, dass der deutsche Michelin so lange gebraucht hat. Unter den Foodies des Großraumes Düsseldorf ist das Nagaya schon seit langen Jahren sehr hoch geschätzt. Was wir hier an diesem Abend auf den Teller bekamen war so genial, dass es den mickrigen, einen Stern wie eine Beleidigung aussehen ließ. Da wird der Michelin wohl schon sehr bald nachbessern müssen. Unser Gastgeber, seit Jahr und Tag ständiger Stammgast in diesem kleinen Genussparadies, hatte zum Essen eine Doppelmagnum 2007 Hubacker GG von Klaus Keller angestellt. Der entpuppte sich als gelungene Universalantwort auf die 15 verschiedenen, geschmacklich explosiven, aber sehr unterschiedlichen Gänge unseres Traummenüs. Nicht, dass der Hubacker jetzt zu jedem dieser Gänge die perfekte Antwort gewesen wäre. Aber er stand als Solitär im Glas, ließ sich von der Aromatik der kulinarischen Kreationen nicht unterkriegen und überpowerte diese auch nicht. Mit dem Etikett-Zusatz "One drink fits all dishes" wäre das sicher ein guter Asien-Export.

Wie voll ist man nach 15 genialen Japan-Gängen? Überhaupt nicht. Satt zwar, aber trotzdem federleicht schwebten wir zum guten Ralf nach Hause für den zweiten Teil dieser vorweihnachtlichen Bescherung. Vor uns stand rasch die erste Kalifornien-Paarung. Zeitlos schön präsentierte sich 1970 Beaulieu Reserve George de Latour. Weich, reif, sehr fein und aromatisch mit schmeichlerischer Süße und dezenter Minze, ein perfekt gereifter, großer Kalifornier, der es in dieser Form noch etliche Jahre macht 94/100. Hatte ich zuletzt vor sieben Jahren in Boston im Troquet in ähnlicher Form im Glas. Ich werde die Abstände zu den nächsten Begegnungen verkürzen. Eigentlich hätte der 1968 Beaulieu Reserve George de Latour im anderen Glas da voll mithalten müssen. Schließlich wurden 1968 in Kalifornien insgesamt und auch bei Beaulieu sehr gute, langlebige Weine erzeugt. Aber diese Flasche hatte wohl schon zuviel erlebt und zu viele Keller gesehen. Leider entsprach aber nur die immer noch sehr dichte Farbe der Papierform. Die Nase war verdammt reif mit oxidativen Noten, am Gaumen gärender Apfel und viel Säure. Der Wein wirkte wie kurz vor dem Abnippeln, hielt sich dann aber auf niedrigem Niveau mit malziger Süße im Glas 78/100.
In der nächsten Paarung ein älter scheinender Wein mit sehr reifer, leicht trüber Farbe. Entwickelte sich aber sehr gut im Glas, weich, reif, mit Minze, Eukalyptus, Tabak und Zedernholz, ging auch als reifer Medoc durch, 1974 Simi Reserve 91/100. Im anderen Glas mit sehr viel dichterer, jünger wirkender Farbe 1935 Simi Reserve, dieser legendäre, 2 Jahre nach Ende der Prohibition erzeugte, unsterbliche Wein. Hier hatten wir wohl eine perfekt gelagert Ausnahmeflasche erwischt. Minze, Eukalyptus, aber auch noch reife Kirschfrucht, dazu eine beeindruckende Statur, ein sehr harmonischer, druckvoller Wein wie aus einem Guß, der mit der Zeit am Gaumen immer süßer wurde 96/100.

Sehr hell die Farbe des nachfolgenden 1921 Cheval Blanc aus einer nicht optimalen Chateau-Abfüllung, die schon eher Richtung Low Shoulder tendierte. Doch richtige Müdigkeit ließ dieser legendäre Cheval Blanc noch nicht verspüren. Sehr fein, elegant, einfach betörend die Nase, das klassische Cheval Blanc Parfüm in einer etwas älteren, aber immer noch faszinierenden Variante, am sehr seidigen, ebenfalls hoch eleganten Gaumen passend dazu eine wunderbare, verschwenderische Süße 96/100. Erstaunlich jung und kräftig mit dichter Farbe danach ein sehr attraktiver 1934 Leoville Barton, der sich einfach wunderbar trank 94/100. Wenn doch nur die heutigen Leoville Bartons ähnlich gut altern würden.
Richtig voll wurde es jetzt im Glas, eine Magnum war angesagt, 1975 Heitz Martha s Vineyard. Undurchdringliche, junge Mörderfarbe, ein gewaltiges Powerteil mit explosiver Aromatik, nichts für Filigrantrinker und Leute mit schwachen Nerven. Gut, da war leider auch ein störender, korkig wirkender Ton, der an 85 Heitz erinnerte, aber der ging weitgehend unter in diesem aromatischen Trommelfeuer mit Massen von Minze und Eukalyptus, von Teer, Lakritz und schwarzem Trüffel. Dieser Martha s ist ein ähnliches Tier wie 75 La Mission 96/100(ohne den Fehlton sind da locker 2 mehr drin). Hatte ich eben von Fehlton gesrochen? Den brachte jetzt 1985 Heitz Martha s in Vollendung. Untrinkbar, dieses Zeugs. Dabei hatte ich erst vor Tagen eine herrliche Flasche aus eigenen Beständen im Glas. Aber 85 Heitz ist wie russisch Roulette mit einem fast vollen Revolver.
Völlig daneben leider auch der 2001 Richebourg von Anne Gros. Diffus wirkend mit dropsiger Süße, völlig neben der Spur, eher an einen Spätburgunder einer badischen Winzergenossenschaft erinnernd 82/100.
Das Flaschenglück kam dann zurück mit einem 1984 Chateau Montelena. Aus dem einstmals brutalen Knochen war inzwischen ein zwar immer noch kräftiger, aber doch gut gereifter Wein geworden mit herrlicher Frucht und fast cremiger Textur 94/100. Reif heißt hier übrigens nur, dass er in den nächsten 20(!) Jahren getrunken werden sollte. Die Montelenas haben ein gewaltiges Alterungspotential. Und auch der natürlich reifere 1976 Kenwood Artist Series zeigte sich als letzter Wein dieses Abends von seiner besten Seite, sehr aromatisch mit schöner Süße 92/100.

Jetzt fehlte mir nur noch Eines zu meinem Glück, ein Taxi. Aber das war aussichtslos, alle Leitungen dauerbesetzt. Kein Wunder, war doch Düsseldorf tief verschneit und schweinekalt. Ich zog also zu Fuß los und stellte mich auf mindestens 90 Minuten Härtetest ein. Vielleicht würde ja auch übermorgen in der Zeitung stehen, man habe einen fast erfrorenen Fußgänger mit deutlicher Heitz-Fahne gefunden. Doch ich hatte Glück. Schon nach wenigen Minuten fand ich ein freies Taxi. Warum der frei war und nicht auf die Zentrale reagierte, wollte ich wissen. Seine Erklärung war einleuchtend. Die schickten ihn nur quer durch die Stadt, dabei ständen doch jetzt überall genügend Leute wie ich herum. Recht hatte er, der gute Mann, und ich freute mich über dieses unverhoffte, dritte, vorgezogene Weihnachtsgeschenk. (wt 12/2010)