Grosse St. Estephe Probe

Legendär sind sie, die Tastings der Linzer Gang unter der Leitung von Team Chef Dr. Peter Baumann. Bekannte Namen der internationalen Weinszene zieren die Teilnehmerlisten, auf den Tisch und ins Glas kam bisher fast alles, was auf dieser Welt gut und rar ist. So wurde hier vor 15 Jahren auch eine der ganz wenigen originalen 1947 Lafleur Magnums verkostet. Der englische Weinhändler John Avery hatte dieses ultraseltene Teil man spricht von insgesamt nur einer handvoll produzierten Magnums beigesteuert. Seither gehört der 47er Lafleur speziell in der Magnum zu den meistgefälschten Weinen der Welt und die Produktion dieser Kuckuckseier dürfte die der Originale wohl gut um das Hundertfache übersteigen. Ich hatte erst kürzlich wieder in einer hochkarätigen Probe das zweifelhafte Vergnügen, eines dieser Machwerke verkosten zu müssen.

Sehr schwierig war das Thema der diesjährigen Probe, an der ich teilnehmen durfte. St. Estephe war angesagt. Die drei namhaftesten Chateaus aus St. Estephe, Cos d Estournel, Calon Ségur und Montrose sollten in unterschiedlichen Jahrgängen gegenüber gestellt werden. Natürlich gibt es gute und sogar sehr gute Weine aus St. Estephe. Ich müsste jedoch lügen, wenn ich St. Estephe zu meiner Lieblings-Appellation küren sollte. Sollte ich die Appellationen von Bordeaux ganz kurz und knackig charakterisieren, so sähe das in etwa so aus: Pomerol hedonistisch-üppig, St. Emilion seidige Eleganz, Pessac Cigarbox in Perfektion, Margaux die Eisenfaust im Samthandschuh, St. Julien solide und gut, Pauillac die Kraft und die Herrlichkeit, St. Estephe ganz schön anstrengend. Klingt sehr stark vereinfachend und ist es natürlich. Auch vor St. Estephe hat moderne Vinifikation nicht Halt gemacht, so dass auch hier inzwischen mehr Weine mit etwas Sex Appeal produziert werden.

1990 und 1989 war die ersten und jüngsten Jahrgänge der Probe. Getrunken wurde von Jung nach Alt an einem Nachmittag ohne begleitendes Essen und natürlich blind. Wir wussten zwar jeweils, welche Weine zu einem Flight gehörten, aber nicht, in welchem Glas sie waren. 1990 Calon Ségur hatte eine erstaunlich reife Farbe, etwas rotbeerige Frucht, insgesamt aber rustikal, eckig mit hoher Säure und wenig Charme. Schien seinen Höhepunkt schon hinter sich zu haben 88/100. Würde ich, wenn überhaupt, nur noch in Großflaschen kaufen. 1990 Cos d Estournel feine, schmelzige Nase mit betörender Röstaromatik und viel Kaffee, am Gaumen deutlich kompakter und geprägt von massiven Tanninen. Scheint langsam wieder aus dem Schneckenhaus herauszukommen, in das er sich vor ein paar Jahren verzogen hat. Sicher ein Wein mit Zukunft 93/100. Und der dritte Wein dieses Flights sollte der legendäre 100-Parker-Punkte 1990 Montrose sein? Was für ein erbärmlicher Stoff, so bissig und ungenerös, staubige Nase, hohe Säure und bittere Tannine, garantiert fruchtfrei, da kamen an diesem Nachmittag mit gutem Willen mal gerade 84/100 ins Glas. Gleichzeitig zeigt dies aber auch die Problematik einer solchen Probe. Wir machten hier eine Momentaufnahme und konnten eigentlich nicht mehr als die aktuelle Form der Flasche bewerten, die vor uns stand. Schon einmal, 1994 auf Sylt, habe ich den Montrose aus einer Doppelmagnum so grottenschlecht erlebt. Dem stehen aber alleine bisher in 2007 drei Flaschen gegenüber, von denen ich zwei mit 100/100 und eine mit 96/100 bewerten konnte. 1989 Montrose gefiel mir hier in Linz deutlich besser. Dichte konzentrierte Farbe, lakritzig-animalische Nase, auch am Gaumen ein Muskelpaket mit viel Potential, aber auch erster, dezenter Schmelz und insgesamt für Montrose doch erstaunlich harmonisch und balanciert 93/100. Noch besser als aus der 1tel gefiel mir der Montrose aus der Magnum(94/100) und der Doppelmagnum(95/100), die beide zu den Mahlzeiten geöffnet wurden. 1989 Cos d Estournel hatte die dichteste Farbe des gesamten Flights, eine sehr animalische Nase, viel Kraft und massive, aber reife Tannine, wirkt derzeit noch etwas verschlossen, dürfte aber bald wieder kommen. Ein gewaltiger Wein, der dem 90er in 10 Jahren die Rücklichter zeigen wird 94/100. Oxidiert und fehlerhaft eine Magnum dieses Weines am Vorabend.

1988 und 1986 standen sich im zweiten Flight gegenüber. Ausnehmend gut gefiel mir 1988 Calon Ségur. Ein sehr feiner, eleganter, charmanter Wein mit guter, rotbeeriger Frucht und viel Zedernholz. Baut sehr schön im Glas aus und wird immer schöner und schmelziger 92/100. Dieser völlig unterschätzte Wein scheint sich zu einem echten Geheimtipp zu entwickeln und zeigt deutlich, was aus 1988 noch zu erwarten ist. Nicht gelten dürfte dies für 1988 Montrose, der für dieses Chateau doch erstaunlich leichtgewichtig war, ein eher feiner, fruchtiger Schmeichler, nicht sehr konzentriert und etwas laktisch im Abgang 89/100. Langstreckenpotential zeigte wieder 1988 Cos d Estournel, den ich insbesondere aus der Großflasche etwas offener kenne. In dieser doch noch arg verschlossenen 1tel, geprägt von massiven Tanninen, aber doch mit spürbarer, gewaltiger Substanz, kamen kaum mehr als 88/100 ins Glas. Da ist reichlich Geduld angesagt. Langfristig könnte dieser Cos aus dem Trio 88-89-90 der schönste werden. 1986 Calon Ségur ist einfach ein schlechter Wein, da gibt es nichts zu beschönigen. Besser abhaken und vergessen 78/100. Recht unharmonisch wirkte auch 1986 Montrose, ein zwar recht dichter, kräftiger Wein, bei dem aber die einzelnen Teile nicht zusammen passten 85/100. 1986 Cos d Estournel hat zwar kräftige und zupackende, doch reife Tannine und vor allem eine verschwenderische Frucht. Entwickelt sich sehr schön im Glas zu einer üppigen Fülle, kein klassischer St. Estephe, aber ein wunderbarer Wein mit hom Spaßfaktor 94/100.

1982 und 1985 standen als nächste Jahrgänge auf dem Programm. 1985 Calon Ségur war ein feiner, kleiner, leichter Wein mit schöner Frucht, aber auch sehr kurz am Gaumen. Jetzt und bald trinken, da kommt nicht mehr viel 86/100. 1985 Montrose mit seiner erstaunlich hellen Farbe war leider nicht fehlerhaft. Diese seltsame Mischung aus nasser Pappe und nassem Hund scheint bei diesem Wein Standard zu sein 81/100. Großes Kino dagegen und der mit Abstand beste Wein des Flights, 1985 Cos d Estournel. Sehr füllig, dicht und reichhaltig mit üppiger Frucht. Zeigte in dieser Flasche einfach alles. Habe ich lange nicht mehr so gut getrunken 96/100. Ob das ein letztes, großes Aufbäumen ist? Ich würde bei 85 Cos kein Risiko eingehen und den Wein zumindest aus der Normalflasche in der derzeitigen, bestechenden Form in den nächsten Jahren trinken. Auf dem Punkt war 1982 Calon Ségur, der immer noch eine recht dichte Farbe besaß. Ein recht komplexer, gut strukturierter Wein mit viel Minze, dem ein Hauch von Eukalyptus eine leicht exotische Note verlieh 94/100. Erstaunlich zugänglich und für das Gut geradezu zahm war 1982 Montrose. Ansprechende, aromatische Nase mit Lakritz und Jod, am Gaumen sehr fein, elegant und schmeichlerisch 90/100. 1982 Cos d Estournel war in dieser Flasche um Längen von seiner einstmaligen Form entfernt. Zeigte längst nicht alles, trotz spürbarem Potential und wirkte etwas verhalten 93+/100.

Ins Weinstraflager ging es mit den Jahrgängen 1970 und 1966. Das war wirklich kein Ruhmesblatt für Bordeaux und St. Estephe, und mir wurde langsam der Begriff Arbeitsprobe immer klarer. Bei den 70ern war 1970 Calon Ségur der Einäugige unter den Blinden, nicht so gut wie vor einem Jahr auf René Gabriels großer Cos-Probe aus der Impi(91/100), aber doch recht schön zu trinken 87/100. Einen Hauch besser am Vorabend aus der Magnum, aber auch hier rustikal, etwas staubig, ein Hauch von Süße, Eleganz auf niedrigem Niveau 88/100. Einigermaßen erträglich 1970 Cos d Estournel, den ich auch noch deutlich schlechter kenne 81/100. Ganz ok auch 1970 Montrose, Zedernholz ohne Frucht, tut nicht weh, aber ich würde, vor die Alternative gestellt, an einem solchen Abend lieber alkoholfrei machen 82/100. 1966 Calon Ségur, den ich noch 1997 aus einer hochklassigen Magnum getrunken habe, war in dieser Flasche trotz immer noch dichter Farbe einfach nur am Ende und kaputt mit reichlich Maggi. Da blieb als einziger Reiz nur der Brechreiz. 1966 Cos d Estournel in dieser Flasche(kenne ich deutlich besser) nur alt, deutlich über den Punkt, ungenerös mit zu hoher Säure 76/100. 1966 Montrose hätte die Ehre des Jahrgangs retten können. Ein Wein mit toller Farbe und Substanz, aber leider korkig.

Es sollte leider nicht mehr viel besser werden. 1964 und 1961 waren jetzt angesagt. 1964 Calon Ségur mit seiner sehr reifen, hellen Farbe bäumte sich am Ende seines Weinlebens noch einmal auf und war mit feiner End- bzw. Todessüße noch erstaunlich gut trinkbar 85/100. 1964 Montrose hatte eine recht trübe Farbe, Liebstöckel ohne Ende und sehr trockene Tannine. Begeisterung für einen solchen Wein kann nur wissenschaftlicher Natur sein 81/100. 1964 Cos d Estournel war ein fürchterlicher Säuerling, der weh am Gaumen tat und für den sich jede Bewertung verbietet. Aus dem großen Jahrgang 61 war 1961 Calon Ségur in dieser Probe noch der schönste Wein auf insgesamt sehr mäßigem Niveau, ein feiner, ausgeglichener Wein ohne Höhepunkte 88/100. Da hatte eine Magnum am Vorabend noch deutlich mehr gezeigt. Auch hier zwar helle Farbe, heller als 45, aber sehr elegant und fein mit leicht zitroniger Säurenote im Abgang, ein perfekt gereifter, großartiger 61er, in der Magnum voll auf dem Punkt 94/100. 1961 Montrose hatte in der medizinalen, von Jod dominierten Nase zwar auch eine feine Süße, war am Gaumen aber sehr kurz 86/100. Auch 1961 Cos d Estournel medizinal und nicht aufregend. War zwar nie ein großer Wein, aber eine ganze Ecke besser kenne ich ihn schon 87/100.

Leider korkig war 1959 Calon Ségur, den ich als durchaus ansprechenden schönen Wein auf 90+/100 Niveau kenne. 1959 Montrose wirkte zunächst sehr anstrengend mit hoher, astringierender Säure, baute jedoch schön im Glas aus und wurde immer besser. Schade, dass er nicht lang genug vorher dekantiert worden war und wir ihm nicht mehr die nötige Zeit geben konnten. Da wäre noch deutlich mehr draus geworden als die 85/100, die wir zu Anfang im Glas hatten. Ein Wein mit Potential, den ich aus eigenen Beständen noch mal nachverkosten werde. 1959 Cos d Estournel fiel mit seiner erstaunlich jungen, dichten Frucht etwas aus der Rolle, war aber trotz der hohen Säure sehr gut zu trinken 90/100. Der schönste Wein der 53er war 1953 Calon Ségur, ein schöner, spannender Wein mit leicht medizinaler Nase, bei dem keinerlei Eile geboten ist 91/100. 1953 Montrose hatte eine bräunlich-trübe Farbe, eine malzig-süße Nase, war am Gaumen absolut reif, aber mit schöner Fülle und Süße, sehr gut trinkbar 90/100. Auch 1953 Cos d Estournel war trinkbar mit dezenter Süße, aber der deutlich älteste der drei Weine mit sehr reifer, trüber Farbe 87/100.

Eher einer Tour durchs Gruselkabinett glich der nächste Flight. 1949 Calon Ségur war ein so gerade noch ohne große Schmerzen trinkbarer Alt-Säuerling 82/100. 1949 Montrose machte mit einer sehr schönen Nase neugierig, enttäuschte dann aber durch einen eher astringierenden, anstrengenden Gaumen 81/100. 1949 Cos d Estournel hatte eine unappetitliche Kloakennase, die sich leider am Gaumen fortsetzte, eklig. 1947 Calon Ségur mit seiner trüben Farbe entzog sich einer möglichen Hinrichtung durch Kork. 1947 Montrose hatte eine sensationelle Nase, der aber ein absoluter Horror-Gaumen entgegen stand. Bitte nur riechen, keinesfalls trinken 72/100.

Eigentlich sollte man den Mantel des (peinlichen) Schweigens über den letzten Flight breiten. 1945 Calon Ségur war wenigstens noch trinkbar und der Einäugige unter den Superblinden. Der sonst so große 1929 Cos d Estournel(bisher dreimal auf 96+/100 Niveau getrunken, zuletzt im Juli 07 bei Rostaing in Paris) eine Art Chateau Gorgonzola, Käse mit Schimmelpilzen 72/100. Und der eigentlich unkaputtbare 1928 Cos d Estournel (2006 auf René Gabriels großer Cos Probe 96/100) war schlicht und einfach hin. Das kommt davon, und diese Kritik maße ich mir auch als Gast an, wenn Weine für eine solche Probe anscheinend weitgehend kritiklos von überall her zugekauft werden. Und noch schlimmer, viele der älteren Weine hatten nicht die genügende Zeit, wieder zur Normalform zu finden. Ein alter Wein braucht nach längerem Transport unbedingt 3 Monate, wenn er wieder alles zeigen soll. Leider wird dies viel zu häufig vergessen. Wir hatten am Vorabend eine, wohl aus einem Linzer Keller stammende 1945 Calon Ségur Magnum. Statt magerer 80/100 wie aus der 1tel brachte die locker 93/100. Statt nur trinkbar, wie in der 1tel, war das ein durchaus großer Wein mit immer noch unglaublich dichter Farbe, in der Nase mit Dörrobst und balsamischen Noten, auch etwas flüchtiger Säure, am Gaumen mit noch unglaublich viel Kraft und immer noch deutlich spürbaren Tanninresten. In dieser Form sicher noch 2-3 Jahrzehnte haltbar. St. Estephe ist ein schwieriges Thema, aber mit gut gelagerten Flaschen in gutem Zustand bekäme man auch ein solches Thema weitgehend in den Griff.

Sehr angetan war ich von der Teilnehmerrunde und der allgemeinen Atmosphäre der Probe. Auch die Sommeliers gestandene Rechtanwälte machten ihren Job hervorragend. Schlichtweg ein Hit war die Location. Das Josef, eine gelungene Neuinterpretation des klassischen Wirthauses, ist in Linz eine Institution und würde jeder Großstadt Ehre machen. Hier steppt rund um die Uhr der Bär, und wer im Josef Langeweile hat, keinen Anschluß findet oder später ungeküsst ins Bett geht, dem ist wohl nicht mehr zu helfen.