Jeder wird nur einmal Sechzig

Das gilt auch für die Weine aus 1950, Wineterminators Geburtsjahr. Eigentlich kein großer Jahrgang, doch in St. Emilion und insbesondere in Pomerol wurden reihenweise legendäre Weine erzeugt, die sich mit den größten Jahrgängen des letzten Jahrhunderts messen können.

Eine komplette Raritätenprobe nur aus 1950ern? Was risikoreich klingt, entpuppte sich als eine spannende Verkostung auf extrem hohem Niveau. Gut, mit einer Selektion der besten aus über 90 verschiedenen, gesammelten 50ern und entsprechender Verkostungserfahrung blieben nicht nur die deutlich schwächeren Weine des linken Ufers außen vor. Aber von einem Niveau dieser Güte hatte auch ich nicht zu träumen gewagt. Ort des Geschehens war wieder das Restaurant Schorn in Düsseldorf, in dem jetzt seit einem Jahr mit dem jungen Team Anne Schorn und Marcel Kiefer ein frischer Wind weht.
Gleich der erste Wein eine Überraschung. Was kredenzte uns da Oliver Speh, der uns mustergültig umsorgte, einen Sherry? Zumindest der deutliche Sherryton in der Nase zeigte in diese Richtung, am Gaumen nussig, leicht oxidativ mit gut integrierter Säure, trank sich perfekt als Apero zu Käse, dieser 1950 Chateau Chalon, ein Vin Jaune aus dem Jura 90/100.

Reichlich Zeit und Luft braucht der 1950 YGAY Blanco Reserva Especial von Marques de Murrietta. Der erste Eindruck ist hier stets der eines reifen Weines, der schon deutlich bessere Tage gesehen hat, reif die Farbe mit tiefem Goldgelb, reif die Nase mit leicht oxidativen Noten, reif und etwas gezehrt wirkend der Gaumen. Doch dieser erste Eindruck täuscht. Mit Luft, viel Luft und entsprechender Zeit im Glas entwickelt sich hier Erstaunliches. Der am Gaumen furztrockene YGAY wird am Gaumen durch die hohe Säure frischer und nachhaltiger, die Nase wird immer spannender mit feiner Süße, mit Orangenkonfit und Karamell. Aus den 85/100 des ersten Eindrucks werden schnell 88, dann 90 und bei entsprechender Geduld auch erheblich mehr. Spannend auch der sehr kraftvolle, etwas rustikal wirkende, mineralische 1950 Clos Pignan Blanc Reserve, der am Gaumen eine schöne, nussige Fülle zeigte 90/100. Praktisch altersfrei wirkte der 1950 La Pomarède, ein "einfacher", weißer Graves Wein. Sehr brilliant und klar die goldgelbe Farbe, frisch die von Zitrusfrüchten geprägte Nase, auch am Gaumen reife Zitrusfrüchte und eine feine Bitternote, dabei immer noch jugendlich wirkend und mit sehr druckvoller Aromatik, baute im Glas nicht ab sondern deutlich aus 93/100. Viel Zeit und Luft brauchte auch der 1950 Domaine de Chevalier Blanc, auch hier noch recht jung wirkend die helle, brilliante goldgelbe Farbe, in der Nase erst Töne von frisch gebohnertem Boden, doch die verloren sich rasch. Der Domaine de Chevalier drehte unglaublich auf und war noch so kraftvoll, wurde dabei weicher, feiner und schmelziger mit schöner Süße 93/100.

Zu Jörg Müllers legendären Gänseleber-Törtchen gab es vier große Süßweine aus unterschiedlichen Gebieten. Sehr nobel und ohne Schwächen präsentierte sich der 1950 d Yquem, ein großer, kompletter, perfekt gereifter Sauternes aus einem Guss mit wunderschöner, generöser Süße, samtig am Gaumen, sehr elegant mit ewiger Länge 96/100. Voll da und auf dem Punkt der 1950 Rauenthaler Baiken Riesling Beerenauslese Cabinet von den Staatsweingütern. Schöne Süße, knackige Säure, kein Hammerwein, eher auf der filigranen Seite und sehr harmonisch und balanciert 94/100. Dunkel die Farbe der 1950 Tokaji Aszu Eszencia, aber das täuschte. Immer noch so unglaublich jung war dieses gewaltige, für die Ewigkeit gemachte Konzentrat, süße, pflaumige Frucht, auch am Gaumen süße, sehr druckvolle Fülle, würde einer Wiener K&K Zuckerbäckerei als perfektes Aushängeschild gereichen 96+/100. Viel Vanille und reifes Backwerk hatte der 1950 Chateau Rayas Liquoreux in der Nase, am Gaumen schöne Süße, dabei weich, balanciert und an frisch gebackene Madeleines erinnernd 93/100.

Erster Rotwein war ein als Pirat und Risikoflasche eingeschmuggelter 1950 Cap Coronel Gran Vino aus Chile, mit dem ich allerdings schon in anderen, alten Jahrgängen sehr gute Erfahrungen gemacht habe. Speckig, rauchig, Kraft und Fülle, gute Säure, gewaltige Struktur, aber auch Eleganz und Harmonie, immer noch so jung mit reichlich Reserven, geht blind als großer Rhone-Wein durch 95/100.

Erstaunlich hohes Niveau zeigten auch die vier ausgewählten Burgunder. Einfach eine Traumnase mit feiner Süße hatte der 1950 Romanée St. Vivant Les Quattres Journaux von Louis Latour, ein perfekt gereifter Burgunder, der auch am Gaumen samtig weich und sehr elegant mit feinem Schmelz war. Einfach ein betörender Wein mit sehr erotischer Ausstrahlung 96/100. Noch sehr jung wirkte der 1950 Beaune Grèves Vigne de l Enfant Jesus von Bouchard, sehr pikant mit herrlich würziger Frucht, ging locker als 40 Jahre jüngerer, großer Burgunder durch und dürfte noch ein langes Leben haben 96/100. Geradez explosiv der ungemein kraftvolle 1950 Echezeaux von Doudet-Naudin, sehr dichte Farbe, sehr würzig und hoch aromatisch in der Nase und am Gaumen, noch so jung wirkend, aber auch mit feiner Süße, sehr lang mit riesengroßem Spannungsbogen 97/100. Auch der 1950 Corton Cuvée Charlotte Dumay vom Hospice de Beaune in einer Abfüllung von Pierre Ponelle schien die ewige Jugend für sich gepachtet zu haben, tiefe Farbe, widerum so kraftvoll und mit so hohem aromatischem Druck, baute, nachdem ein anfänglicher Fehlton in der Nase verflogen war, enorm aus 96/100.

Extrem hohes Niveau brachte der St. Emilion-Flight. Viermal sehr dichte Farbe, fast ohne Brauntöne, viermal sensationelle, sehr druckvolle Aromatik. Die Unterschiede zwischen den einzelnen Weinen waren eher stilistischer Natur. Fabio Chiarelotto(Montepeloso) brachte es in der Blindverkostung auf den Punkt: Der Linke (das war Cheval Blanc) ist der geilste, der Rechte (Gaffelière-Naudes) ist der Beste. Rabenschwarz war 1950 Cheval Blanc, extrem dicht und konzentriert, ein großer trockener Port, Jodtöne, alter Balsamico, aber auch eine gewisse Exotik, brauchte viel Zeit, um sich zu öffnen und wurde dabei immer komplexer, immer voller und üppiger und entwickelte eine schöne, dekadente Süße und war sehr lang am Gaumen 99/100. Ausgerechnet 1950 Pavie, sonst aus älteren Jahrgängen eher wie seit 1998 wieder meist ein Hammerwein, war in diesem Flight der feinste, eleganteste, leichteste und schmeichlerischste 97/100. 1950 La Gaffelière in einer deutschen Schulz & Wagner Abfüllung war ein kompletter, großer Wein, immer noch mit guter Säurestruktur und Potential für mindestens ein weiteres Jahrzehnt 98/100. Und dann war da als Primus inter Pares dieser unglaubliche 1950 Gaffelière-Naudes, so seidig, so elegant mit verschwenderischer Süße, meine bisher beste Flasche dieses Cheval Blanc für Schlaue 100/100.

Dreimal La Mission war dann angesagt. Seit 1987 habe ich diesen Wein Dutzende Male aus unterschiedlichen Abfüllungen getrunken, immer ein unkaputtbares, sehr beeindruckendes Monument, La Mission in Perfektion mit der intensiven, klassischen Nase, Zigarrenkiste, Teer, frisch aufgebrühter Kaffee mit Rösttönen, man möchte gar nicht aufhören, zu riechen. Am Gaumen kräftig, aber reif mit wunderbarer Aromatik und toller Länge am Gaumen. In etwa auf einem Niveau waren diesmal 1950 La Mission in der Chateauabfüllung aus dem Nicolas Keller und 1950 La Mission in einer belgischen Abfüllung von Thienpoint, beide 97/100. Noch mal deutlich drüber der deutliche jünger, fruchtiger und sehr druckvoll wirkende 1950 La Mission in einer deutschen R&U Abfüllung, ging als eine Art Zwilling des 82ers durch 99/100. Alle drei Flaschen stammten aus einwandfreier Herkunft mit perfekten Füllständen (bn) und lagen seit über 15 Jahren in meinem Keller. In solchen Flaschen hat 1950 La Mission locker noch mal ein Jahrzehnt vor sich.

Die wohl gleichmäßig besten Weine, darunter zahlreiche Legenden, wurden 1950 in Pomerol erzeugt. Warum diese Weine immer noch in sehr guter Qualität auftauchen? Ganz einfach. Der Jahrgang stand und steht eigentlich immer noch im Schatten solch spektakulärer Jahrgänge wie 45, 47 und 49. Den hatte niemand so richtig auf der Uhr. Und da es seinerzeit eine große Ernte von (im Medoc) eher leichteren, charmanten, fruchtigen Weinen gab, entwickelten sich die 50er eigentlich nicht zum Spekulationsobjekt. Die blieben, so sie nicht getrunken wurden, hübsch vornehmlich in belgischen Kellern liegen. Belgien war damals das Haupt-Abnehmerland für Pomerol. Gleich viermal habe ich bei den Pomerols die Höchstnote gezückt. Und das lag nicht an der Begeisterung für den eigenen Geburtsjahrgang, sondern am schlichtweg überragenden Qualitätsniveau. Ich war der einzige 50er am Tisch, aber über die Qualität der Weine waren wir uns eigentlich alle einig. Vom anderen Stern 1950 Petrus in einer perfekten Chateauabfüllung. Ich war dabei, als Oliver Speh diesen Wein mit einem nur zu verständlichen, breitem, fettem Grinsen dekantierte. Was da an Bukett aus der Flasche schoß, erinnerte in der raumfüllenden Intensität an eine legendäre Flasche 1900 Margaux. Schlichtweg ein perfekter Traumwein, bei dem von der Nase über den Gaumen bis zum endlosen Abgang einfach alles stimmte. Das waren ohne Wenn und Aber 100/100. Ich gehöre zu den Glücklichen, die schon oft und sehr viele Petrus verkosten durften. Das war wohl mein bisher bester. Sehr beeindruckend auch wieder 1950 La Fleur Petrus mit einer unwiderstehlichen, süßen Kaffeenase, bei der der Gaumen nicht ganz mit kam 97/100. Vor 10 Jahren übrigens in einer Probe war das Verhältnis zwischen diesen beiden Weinen genau andersherum. Absoluter Preis-/Leistungssieger in diesem Flight dürfte übrigens 1950 Clos René in einer R&U Abfüllung gewesen sein, ein schier unglaubliches Kraftbündel, schokoladig, speckig, portig, mit dekadenter Opulenz, immer noch mit viel pflaumiger Frucht und deutlich jünger wirkend, gut eingebundene, tragende Säure 98/100. Bei R&U wird man schon gewusst haben, warum man gerade diesen Wein zum 125jährigen Jubiläum abgefüllt hat. Noch eine Ecke darüber der 1950 Clos l Eglise, ein schlichtweg perfekter, großer, kompletter, sehr kräftiger Pomerol, jede Suche wert 100/100.

Endlich durfte ich auch 1950 Lafleur, hier in einer belgischen Händlerabfüllung, einmal auf dem Niveau erleben, dass man diesem Wein nachsagt. Das war hier Lafleur in Reinkultur, Ein immer noch jung wirkender, sehr dichter, kraftvoller Wein, mit generöser Süße zwar, aber auch mit der Lafleur-typischen Kräutermischung, so druckvoll am Gaumen, so irre lang, da standen alle Geschmackspapillen auf der Zunge in Hab Acht Stellung 100/100. Nach zwei eher enttäuschenden Flaschen dieses Weines in den letzten Jahren wurde es jetzt aber für dieses einmalige Erlebnis auch mal Zeit. Das Problem bei Lafleur ist nun mal, dass es sich hier um eine begehrte Ikone handelt. Wer die als zehnter Besitzer bekommt, guckt in die bekannte Röhre. Totaler Kontrast zum männlichen Lafleur war der sehr weiche, elegante, schmelzige, schokoladige 1950 Latour-à-Pomerol, eine flüssige Praline allererster Güte 97/100. Sehr erstaunt war ich von der Qualität des 1950 Feytit Clinet aus einer Burgunderflasche. Der war noch so kraftvoll und dicht, getragen von hoher, gut integrierter Säure 95/100. Und dann musste ich noch mal die 100/100 ziehen für einen perfekten 1950 l Evangile, ebenfalls in einer deutschen R&U Abfüllung. Auch den hatte ich ähnlich wie Lafleur schon mehrfach, aber noch nie mit dieser überragenden Qualität im Glas.

Noch so ein Gut, das dringend mal wieder wachgeküßt gehört, ist Nenin. Hier wurden bis 1955 legendäre Weine erzeugt. 1950 Nenin ist da keine Ausnahme. Wie schon 3 Wochen zuvor auf Sylt war das ein herrlicher, schokoladiger Wein mit reifer Kirschfrucht, generöser Süße und burgundischer Fülle 96/100. Auf ähnlichem Niveau, aber völlig anders, 1950 Certan de May. Statt Charme hier unbändige Kraft und die für dieses Gut typische Rustikalität, so eine Art Pauillac aus Pomerol, immer noch recht jung wirkend 96/100. Ein weiteres, sehr gutes Beispiel für die hohe Qualität selbst kleinerer, unbekannter Pomerol aus diesem Jahrgang der 1950 Clos Bourgneuf, auch der noch voll da, sehr aromatisch mit wunderbarer Süße 95/100. Eher enttäuschend mal wieder 1950 Petit Village. Der war reif, hatte eine etwas hohe Säure, auch Süße, konnte aber mit dem extrem hohen Niveau der anderen Weine nicht mithalten 90/100.

Gibt es ein Geheimnis, eine schlüssige Begründung für die hohe Qualität der Pomerols und auch St. Emilions nicht nur aus 1950, sonder auch aus 1945, 1947, 1949, 1953 und 1955? Die großen, namhaften Chateaus produzieren ja auch heute entsprechende Weine. Aber was ist mit den Kleineren, den Clos Renés, den Feytit Clinets? Neben den guten Wetterbedingungen der genannten Jahre dürfte der Hauptgrund für die damalige Qualität im großen Bestand alter Rebberge gelegen haben. Mit den massiven 56er Frösten gingen viele dieser alten Rebanlagen kaputt und wichen minderwertigeren Neuanpflanzungen. Da gibt es jetzt heute noch reichlich Güter mit entsprechendem Terroir, die wieder zu neuem Leben erweckt werden könnten. Gerard Perse hat es mit Pavie vorgemacht. Christian Moueix exerziert das gerade mit seinem Sohn auf Belair. Weiter werden folgen. Ich suche derweil weiter nach gut erhaltenen, älteren Pomerol, aber nur aus bester Hand. (wt 09/2010)