Raritätenprobe mit der "8"

In einer feinen Runde engagierter Weinfans trafen wir uns im September im Restaurant Schorn, um ältere Weine aus Jahrgängen mit der "8" zu verkosten. Aus 6 verschiedenen Ländern stammten die Weine, aus 4 Ländern die Teilnehmer der Probe. Aus 8 verschiedenen Jahrgängen mit der "8" verkosteten wir, wobei wir auch aus vier Jahrgängen Jubilare am Tisch hatten, die in diesem Jahr einen runden Geburtstag feiern konnten. Franz Josef Schorn verwöhnte uns, unterstützt von einem jungen, talentierten Spitzenkoch, mit einem großartigen Menü. Jörg Müller hatte aus Sylt seine legendären Gänseleber-Törtchen mitgebracht und Käsepapst Gerhard Waltmann eine schöne Auswahl auf den Punkt gereifter Käse. Oliver Speh war der Herr der Flaschen und machte das wieder in gewohnter, hoch professioneller Art.

Großes Rätseln gleich beim ersten Glas. Was konnte das sein? Ein gut gereifter Riesling? Ein Grüner Veltliner? Allgemein auf keinesfalls älter als 20 Jahre wurde dieser Wein geschätzt. Als erstaunlich frisch präsentierte er sich, mit nussiger Apfelnote, ganz dezentem Petrol, schöner Fülle und feinem Schmelz, stand wie eine Eins im Glas 89/100. Es handelte sich um einen 1958 Neuburger Kaiserwein aus dem Österreichischen Weinviertel. Schmucklos die Zweiliterflasche, in Österreich auch als Doppler oder Volksmagnum bezeichnet. Sicher war das vor langer Zeit mal ein etwas schwabbeliger Wein mit Restsüße, doch jetzt als 50jähriger war das ein trockener Wein auf hohem Niveau. Das Erstaunlichste dabei, nach gut acht Stunden verkosteten wir ihn noch einmal, und er zeigte immer noch nicht das leiseste Anzeichen von Alter oder Schwäche.
Ungewöhnlich ging es weiter. Söhnlein war jetzt angesagt. Söhnlein, diese preiswert-Sektmarke mit dem Söhnlein brilliant? Genau die, nur jetzt als 1948 Söhnlein Schloß Johannisberger Jahrgangssekt. Nur beim Einschenken war noch ein leichtes Restmousseux zu erkennen. Ansonsten war das kein Sekt mehr sondern Wein, und der hatte es in sich. Tiefe, bräunlich-güldene Farbe, malzige Süße, karamellig, aber auch etwas Säure und nur ganz leicht oxidative Töne in der Nase. Am Gaumen rund, weich, einfach herrlich zu trinken mit langem Abgang und dabei durch die Säure erstaunlich frisch wirkend. Auch dieser Wein muss früher einmal deutliche Restsüße gehabt haben, die inzwischen völlig aufgezehrt ist. Einfach ein grandioses Altweinerlebnis. Da stand zwar Söhnlein auf der Flasche, innen drin war aber schon der Chef 93/100.

Deutlich heller in der Farbe mit klarem Altrosa war anschließend ein 1928 Veuve Clicquot. Der hatte immer noch ein leichtes Mousseux. Weniger schön die leicht fischige Nase, frische Austern hätten jetzt vielleicht geholfen, denn in diese Richtung ging dieser äußerlich perfekte Champagner. Auch der war am Gaumen noch erstaunlich frisch, insgesamt eher etwas leichtgewichtig, immer noch mit feiner Frucht. Ich musste spontan an Himbeersaft mit Sprudel denken. Kräftige Säure hielt diesen Champagner am Leben. Sein Trinkoptimum dürfte er aber schon etliche Jahrzehnte hinter sich haben 89/100.

Im ersten Weißwein-Flight blieben wir bei diesem Jahrgang. Schon verdammt alt und ziemlich anstrengend zu trinken war ein 1928 Chablis von Duvergey-Taboureat. Sehr dunkle Farbe, in der Nase oxidativ, aber auch kräuterig, am Gaumen dominiert von massiver Säure, aber wiederum auch mit kräuteriger Aromatik, dazu Kaffee und etwas dunkles Toffee. Solo kaum mehr trinkbar, doch zum Essen blühte er etwas auf und wurde besser, doch die hohe Säure dämpfte doch sehr einen möglichen Genuss 78/100. Eine Klasse besser im anderen Glas ein 1928 Hermitage Blanc von Habrard. Wahrscheinlich hatte dieser, immer noch sehr kräftig und alkoholisch wirkende Brocken in den ersten Jahrzehnten Trinkern die kalte Schulter gezeigt. Jetzt war er reif, aber trotz güldener Farbe noch nicht wirklich alt. Die zu Anfang leicht korinthige Nase wurde mit der Zeit immer offener, und es kam sogar der Duft von Rosenblättern hinzu. Den Stil weißer Hermitage muss man natürlich mögen, um die 93/100, die bei diesem fast zeitlosen Wein ins Glas kamen, auch nachempfinden zu können.

Voll ins Risiko gegangen war ich vor etlichen Jahren, als ich den 1908 Vina Yago der Bodegas Rioja Santiago erwarb. Vino viejo rosado de mesa stand auf dem Etikett diese Weines, der sich äußerlich in respektablem Zustand mit gutem Füllstand befand. Das Risiko und der happige Kaufpreis hatten sich gelohnt. Der 100jährige Yago präsentierte sich in unserer Probe als eine Art großer, gereifter Chardonnay mit schon leicht ins Güldene gehender Farbe, hohem Faszinationsfaktor und erstaunlicher Frische und Länge 91/100. Als Wein-Chamäleon erwies sich im anderen Glas der 1948 YGAY Blanco Reserva von Marques de Murrieta. Ein kräftiger Wein, mit hochinteressanter, sich ständig wechselnder Aromatik. Wirkte zu Anfang erst etwas senil mit der Nase eines alten Armanacs, wurde dann immer kräuteriger, legte mächtig zu und veränderte sich ständig im Glas, ein facettenreicher, feiner Tropfen ohne Alter 90/100. Unser strammes Programm erlaubte hier leider nur eine Momentaufnahme. Wer einen alten, weißen YGAY im Keller hat, sollte diesen Wein entweder mehrere Stunden(!) vorher dekantieren, oder aber die Entwicklung dieses Weines über etliche Stunden in einem gut gefüllten Glas verfolgen. Es lohnt sich.

Aus dem Staunen nicht heraus kamen wir dann beim nächsten Flight. Zwei gereifte deutsche Auslesen aus vermeintlich schwächeren Jahren standen vor uns. Wunderschön balanciert der 1938er Erdener Prälat feinste Auslese von Anheuser&Fehrs, quasi eine Händlerabfüllung. Mit dunklem Goldgelb floss dieser Wein ins Glas, reichlich Honigtöne in der Nase und auch etwas Bienenwachs, am Gaumen mit verhaltener Süße und guter, balancierender Säure erstaunlich frisch und lang. Ginge auch als Wein aus den 70ern durch. Für 1938 schlichtweg ein Traum, der sich konstant ohne irgendwie abzubauen im Glas hielt 92/100. Wie vom anderen Stern daneben ein 1948er Winzenheimer Berg feine Auslese von August Anheuser. Güldene, brilliante Farbe, keinerlei Alter, ein faszinierender, sehr harmonisch balancierter Wein, bei dem einfach alles stimmte, Süße, Säure, Frucht und extreme Länge am Gaumen. Und das alles mit einer schier unglaublichen Eleganz und Leichtigkeit, Süßwein geht anders, aber kaum besser 97/100. Deutlich zeigt dies auch, dass bei einem Süßwein dick noch lange nicht besser ist. Eine gut gereifte, hochkarätige Auslese kann gerade durch ihre Leichtigkeit mehr Spass machen, als eine dickflüssige TBA.

Perfekt Begleitung von Jörg Müllers süchtig machenden Gänseleber-Kreationen waren danach zwei große, ältere Sauternes. 1928 Raymond Lafon war ein traumhaft balancierter, feiner Sauternes mit schöner Lebkuchenwürze, unendlichem Schmelz und guter Länge 96/100. Die Kraft und die Herrlichkeit daneben 1928 La Tour Blanche, ein sehr dichter, komplexer Wein mit dunkler Farbe und toller Süße, aber auch mit der faszinierenden, an englische Orangenmarmelade erinnernden Bitternote großer Sauternes 97/100. Ich bin ein großer Fan älterer La Tour Blanche. Die liegen, wenn überhaupt, geschmacklich nur um Nuancen hinter Yquem, kosten aber nur ein Bruchteil. Und wie verhält sich jetzt ein La Tour Blanche zur 48er Auslese? Das ist ein Vergleich von Äpfeln und Birnen. Von der 48er Auslese könnte ich problemlos eine ganze Flasche trinken. Da klebt hinterher nichts. Vom La Tour Blanche reicht mir ein gut gefülltes Glas, auf mehr hätte ich gar keine Lust. Genau dieses eine Glas ist aber sicher die bessere Begleitung zur Gänseleber.

Mit einem gemischten 48er Flight ging es in den roten Teil des Abends. Eine schwierige Aufgabe hatten die Teilnehmer hier zu lösen. Galt es doch, die vier Weine jeweils einem Gebiet(Burgund, Bordeaux, Piemont und Rioja) sowie einem Jahrgang(1928, 1948, 1968 und 1988) zuzuordnen. Um so erstaunlicher die zahlreichen Treffer. Einfach grandios der 1948 Musigny Bichot mit seiner wunderbar reifen Pinot-Nase und der immer noch recht dichten, jünger wirkenden Farbe. Sehr generös am Gaumen mit schöner Süße und feinem Schmelz, ein hocheleganter Parade-Burgunder, den man mit dieser Klasse blind unmöglich in ein schwächeres Jahr wie 1948 stellen konnte 95/100. Großartig und sehr eigenständig auch der 1948 Barolo von Borgogno. Der brauchte viel Luft und Zeit um sich richtig zu entwickeln. Als Hustensaft pur kam er ins Glas, Optipect ließ grüßen. Auch am Gaumen war er erst etwas flach. Das gab sich jedoch mit der Zeit. Er baute im Glas enorm aus und entwickelte immer mehr Komplexität und Länge. Dabei blieb er sehr kräuterig mit Salbei ohne Ende 93/100. Die mit Abstand jüngste Farbe dieses Flights hatte ein 1948 Vina Real Reserva Especial. Auch der war zu Anfang etwas verhalten und brauchte viel Luft, kam dann aber sehr gut. Ein fleischiger, kräftiger Wein mit viel Kafee und nur verhaltener, malziger Süße. Scheint noch etliche Jahre vor sich zu haben 91/100. Da kam 1948 Palmer in der deutschen Abfüllung einer Firma Wilh. Meier aus Bremen nicht mit. Auch der hatte zwar immer noch eine gesunde Farbe und zeigte die feine Aromatik und Eleganz eines gereiften Margaux, doch störte die hohe Säure. Auch der lakritzige Abgang war ziemlich säurebetont 87/100.

Ein sehr feiner, eleganter Wein in bester Bordeaux-Stilistik war 1968 Chateau Libertas aus Südafrika. Leider verdarb ein immer stärker werdender Kork den sonst sicher auf 90/100 Niveau gelegenen Genusses eines erstaunlichen Weines, der noch voll im Saft stand. Ich bin immer wieder sehr positiv überrascht, wie gut und langlebig die Weine Südafrikas, aber auch Südamerikas waren, bevor europäische Modewinzer und Önologen den dortigen Weingütern überfruchtete, hoch alkoholisierte Allerweltsweine verordneten. Schier unglaublich im anderen Glas 1958 La Mission Haut Brion. Superdichte Farbe, teerig, ätherisch mit Tabak, Minze und Eukalyptus. Hat noch eine unglaubliche Kraft, lebt in dieser Form noch lange und geht als Zwilling des 78ers durch, für den er blind auch gehalten wurde 94/100.

Schlichtweg nicht glauben konnte ich danach die Nase des 1938 Lafite Rothschild in einer Nony-Abfüllung. Fruchtig-süß, exotisch, zwar mit etwas flüchtiger Säure, aber auch mit Kaffee ohne Ende. Auch am Gaumen wunderbar. Da kamen locker 93/100 ins Glas. Nur hielt dieses Wunder nicht lange an. Der Lafite baute schnell ab, und wer sich mit dem Trinken zuviel Zeit ließ, hatte plötzlich locker 10 Punkte weniger im Glas. Sollte also in Ihrer Verwandtschaft in diesem Jahr noch jemand 70 werden und der dazugehörige Lafite auf dem Programm stehen, bitte nicht dekantieren und in großen, genussvollen Schlucken rasch weg genießen. Ich komme gerne helfen.
Leider machte sich der 1938 Cheval Blanc in einer undefinierbaren, belgischen Händlerabfüllung nicht die Mühe des Aufbäumens. Das war und blieb von Anfang an ein zwar eleganter und feiner, aber doch harmloser Säuerling, dem man die noble Herkunft in diesem Jahrgang nur entfernt anmerkte 84/100.

Ganz anders 1948 Cheval Blanc, ebenfalls in einer belgischen Händlerabfüllung. Der war nicht weit vom legendären 47er dieses Hauses weg, wenn er diesem nicht in den meisten Flaschen inzwischen sogar überlegen ist. Ein vollbusiger, üppiger, schokoladiger, riesengroßer Wein mit massiver, darunterliegender Säure, die aber tragend und gut eingebunden ist. Unbändige Freude auf höchstem Niveau, in der durchaus vorhandenen Exotik an den 90er erinnernd und mit Sicherheit der Topwein des Jahrgangs, zeigt keinerlei Zeichen von Schwäche und dürfte sich noch eine ganze Weile auf diesem Niveau halten 98/100.

Und dann waren wir wieder in der Abteilung Risiko. Einen 1928 Rüdesheimer Rotland Rot von einem Weingut Hermani hatte ich vor langen Jahren erworben. Um Spätburgunder wird es sich wohl bei diesem Weingehandelt haben. Das Weingut gibt es heute nicht mehr. Eine ziemlich helle, aber immer noch rote, klare Farbe hatte dieser sehr feine, etwas leichtgewichtige Wein. Keinerlei Zeichen von Gebrechlichkeit zeigte er, dafür aber eine erstaunliche Frische. Intensiv die bonbonhafte Süße, die an Liebesperlen erinnerte. Ist das jetzt ein großer Burgunder? Nein, eben nur ein toll gereifter Spätburgunder. Aber die 88/100, die da für das reine Trinkvergnügen gegeben werden müssten, spiegeln nicht den Erlebniswert eines quicklebendigen, 80jährigen Spätburgunders wieder. Dafür müsste eigentlich ein ganz anderer, viel höherer Punktewert her.

Die echten Burgunder aus dem selben Jahrgang kamen danach in dem, was in seiner Klasse und Ausgewogenheit wohl der Flight des Abends war. Möglich, dass ich jetzt zwei dieser Weine etwas unfair bewerte, aber sie standen nun mal mit diesem außerweltlichen 1928 Pommard-Rugiens aus der Collection Dr. Barolet zusammen. Geht Burgund schöner als dieser Jahrhundertwein? So fein, süß und verführerisch, kein Hammer, aber feinste Seide und Cashmere am Gaumen mit ewiger Länge, Pinot vom Allerfeinsten, für den es in dieser unnachahmlichen Form nur die Maximalnote geben kann 100/100. Deutlich kräftiger und auch jünger wirkend der komplexe 1928 Musigny Chevillot, der ohne die immense Strahlkraft des Pommards sicher besser abgeschnitten hätte 96/100. Die Zwillingsflasche dieses Weines werde ich noch ein paar Jahre aufheben und sie dann zwar nicht alleine, aber solo trinken. Und dann war da noch ein gewaltiger, faszinierender 1928 Clos Vougeot von Dargent. Der lag irgendwo zwischen den beiden ersten Weinen. Einige am Tisch hielten dieses hochelegante Powerhouse für einen Bordeaux, doch es war Burgund pur und extrem fein 98/100. Bei Weinen dieser Klasse ist es nicht verwunderlich, dass auch und gerade eingefleischte Bordeaux-Fans sich für gereifte Burgunder begeistern. Nicht umsonst heißt es, die besten Bordeaux kommen aus Burgund.

Nein, die Natur mag keinen Krieg. 1945 hatte sie mit einem grandiosen Jahrgang das Ende des Zweiten Weltkrieges gefeiert. Ähnliches hatte sie schon 1918 zum Ende des Ersten Weltkrieges getan. Schade nur, dass die Menschen dieses Geschenk zwar annahmen, aber zu blöde waren, daraus zu lernen. Zwei Monumente aus diesem großen, längst vergessenen Jahr hatten wir im Glas. 1918 Lagrange, importiert und wahrscheinlich auch abgefüllt durch ein deutsches Weinhaus, hatte eine zwar helle, aber absolut intakte und gesunde Farbe. Ein sehr feiner, perfekt gereifter Wein mit Süße, aber auch tragender Säure, schöner Schmelz am Gaumen ließ ihn wunderbar trinken 92/100. Großartig im anderen Glas 1918 La Mission. Immer noch sehr dichte, deutlich jünger wirkende Farbe, natürlich die klassischen La Mission Aromen mit viel Teer, Tabak und Cigarbox. Aber dieser Wein war gleichzeitig so süß, so verführerisch, so unglaublich lecker, ein 90jähriger Weingreis, der im Glas den jugendlichen Liebhaber spielte, ein bestens gereifter La Mission von seiner schönsten Seite 96/100.

Ein toller Wein aus einem Guß mit immer noch intaktem Tanningerüst dann im nächsten Flight 1928 Léoville Poyferré. Da stimmte einfach von vorne bis hinten alles. Sicher in diesem Jahr auf einem Level mit Las Cases, aber nicht mit den harten Tanninen, die viele 28er vom linken Ufer immer noch zeigen. Deutlich besser war diese originalverkorkte Flasche mit hs" als vor 10 Jahren eine äußerlich perfekte, aber neu verkorkte Flasche 96/100. Im anderen Glas 1878 Léoville Poyferré aus der Zeit, bevor sich hier die Reblaus durch die Weinberge fraß. Sehr fein, unendlich elegant mit dezenter Erdbeernase. Trotz leichtem Kork einfach ein unsterbliches Weinerlebnis, dem man mit Punkten nur schwer gerecht werden kann.

Zwei Legenden im nächsten Flight. Schlichtweg überwältigend 1928 Cheval Blanc. Diese unendliche, seidige Eleganz, die feine Süße, gepaart mit viel Kaffee, diese traumhafte Länge, Cheval Blanc geht nicht besser 100/100. Eine der großen Weinlegenden unserer Zeit. Im anderen Glas 1928 Pavie. Völlig anders, im Gegensatz zum distinguierten Cheval eher ein etwas protzig auftretender, lauter Geselle, aber was für ein Geschoß! Immer noch sehr dichte, dunkle Farbe, ein Kraftpaket voller Tannin mit leicht exotischer Aromatik, das sich nur im Schneckentempo entwickelt und wohl noch gut 50 Jahre vor sich hat. Ein Weindenkmal, das eindrucksvoll zeigte, was das Terroir von Pavie hervorbringen kann, und das der heutige Besitze Gerard Pèrse mit seinen modernen Pavies wieder verdammt nah am klassischen Original liegt. Schwierig war hier eine seriöse Bewertung. Nicht nur bewegten wir uns insgesamt auf einem verdammt hohen Niveau, an das sich der Gaumen mit der Zeit wie völlig selbstverständlich anpasst. Mit dem Cheval Blanc war auch neben dran eine 100+/100 Meßlatte. Ich habe mir 97+/100 für einen Wein notiert, der in den nächsten Jahrzehnten noch mehr zeigen wird und solo wahrscheinlich ohnehin in jeder Probe mit der perfekten Note abschneiden würde.

Inzwischen war es nach Mitternacht und wir saßen seit über 7 Stunden zusammen. Im Keller warteten noch 4 interessante Flights. Bei einer Probe älterer Weine ist es immer schwierig, die Menge festzulegen. Zu unkalkulierbar ist die Zahl der Ausfälle. Uns war an diesem Tage Bacchus extrem hold gewesen. Bis auf zwei mehr oder weniger korkige Weine, die aber beide immer noch gut trinkbar waren, hatten wir keinen einzigen Ausfall zu verzeichnen. Also zu später Stunde die Frage an die Runde, wie wir weiter verfahren. Einer geht noch, hieß es unisono. Mit einem Viererflight aus St. Emilion beschlossen wir den Abend. 1928 Troplong Mondot war sehr weit und reif, trank sich aber sehr schön, ein feiner. Eleganter Wein 92/100. Prächtig auch wieder ein 1928 Balestard-la-Tonelle, dessen Zwillingsflasche schon vor 10 Jahren auf einer Raritätenprobe für Furore gesorgt hatte. Begann ebenfalls sehr fein und elegant mit malziger Süße, baute dann aber enorm im Glas aus und entwickelte eine burgundische Fülle 93/100. Noch mal eine ganze Klasse darüber ein perfekter 1928 Canon-la-Gaffelière. Auch der sehr fein ohne das Ruppige vieler 28er vom linken Ufer, einfach rund und perfekt gereift, ohne auch nur ansatzweise müde zu sein, was er einigen Probenteilnehmern voraus hatte. Sehr druckvoll am Gaumen mit wunderbarem Schmelz. In guten Flaschen wie dieser sicher noch Potential für 1-2 Jahrzehnte mehr 96/100. Und dann war da noch ein schier unglaublicher 1928 Figeac. Der kam mit seiner Mörderfarbe, der kraftvollen Dichte und der intensiven Aromatik ganz nahe an den 28er Pavie heran und ließ ein ähnliches Strickmuster erkenne. Ein Ausnahme-Figeac mit immer noch intaktem, massivem Tanningerüst und genug Potential für eine lange Zukunft 97/100.

Gegeben hätte es danach noch einen Viererflight mit 1928 Cos d Estournel, Lanessan, Leoville-las-Cases und Smith Haut Lafite, danach aus Margaux 1928 Desmirail und Rausan-Gassies sowie zum Schluß einen Portwein Dreierflight aus 28, 38 und 48. Aber die Entscheidung, aufzuhören, war sicher richtig. Zu schade ist es, wenn große Weine auf übermüdete Gaumen treffen. Gerade die 28er kann ich ruhigen Gewissens noch mal 10 Jahre für eine neue Probe mit der Acht wegpacken. Der Jahrgang entwickelt sich weiter im Schneckentempo, und Weinfans mit bester Gesundheit können mit den besseren Weinen sicher noch ihren 100sten feiern.