Und wo ist der Canon-la-Gaffelière?

Große Weine brauchen große Winzer und großes Terroir. Fehlt eins von beiden, so fällt das Ergebnis in der Regel mäßig aus. Ein gutes Beispiel dafür ist Chateau Angélus. Hier gelang es Hubert de Boüard Mitte der 80er, das Steuer herumzureißen, und aus einem inzwischen mittelmäßigen Weingut wieder einen der Stars der Region zu machen. Das war sicher eine Meisterleistung, aber nur machbar, weil Angélus eben auch sehr gutes Terroir besitzt. So war das Gut, das sich schon seit 1924 im Besitz der de Boüard-Familie befindet, bis 1961 durchaus in ähnlicher Form wie heute und produzierte in Jahren wie 1929, 1945, 1959 und 1961 absolute Spitzenweine.

Auch der Vater von Stephan Graf Neipperg hatte ein ausgesprochen glückliches Händchen, als er 1971 Canon-la-Gaffelère übernahm. Damit hatte er ein Chateau mit sehr gutem Terroir, aber schlechter Leitung. Erst als er Canon-la-Gaffelière seinem Sohn Stephan übertrug, gelangte das Gut wieder zu früherer Blüte. Früherer? Oh ja. Canon-la-Gaffelière gehörte wie Angelus zu den vernachlässigten Top-Gütern, die bis 1961 große Weine produzierten und nur wieder wachgeküsst werden mussten. Das machte Stephan Graf Neipperg dann ab dem Jahrgang 1988 sehr gründlich.

Ob und wie gut alte Canon-la-Gaffelières wirklich waren, wollten wir anlässlich der Prowein 2005 auf einer kleinen Probe mit Stephan Graf Neipperg herausfinden. In vier Flights standen jeweils ein Canon-la-Gaffelère und ein Konkurrent aus demselben Jahrgang.

Doch zuerst ging es zurück zu den Neippergschen Wurzeln. Einen 1959 Schwarzriesling feinste Auslese aus dem Neipperschen Stammgut in Württemberg galt es zu erraten. Das war gar nicht so leicht. Mit einer verdammt alten Sherrynase präsentierte sich der Wein erst eher wie eine Mischung aus Port und Madeira. Da konnte man kaum auf die Rebsorte kommen, geschweige denn auf die Herkunft. Am Gaumen war der Wein sehr viel schöner als in der Nase. Mit einer guten Süße und reifen Säure war er sehr gut trinkbar und deutlich besser als nur "interessant" 88/100.

Deutlich besser habe ich 1947 Canon-la-Gaffelière schon getrunken, zuletzt 1997 auf einer eigenen Raritätenprobe. Aber der Zahn der Zeit hat inzwischen auch an diesem ehemals wirklich großen Wein genagt. Das ist nicht ungewöhnlich. Auch der hochgelobte 47er Cheval Blanc wird, wenn man mal die immer wieder auftauchenden "perfekten" Magnums weglässt, inzwischen langsam müde. Die 47er waren fast vom Start weg voll trinkbar und haben damit ein ungewöhnlich großes Trinkfenster von 50 Jahren gehabt. Nicht, dass man sie jetzt weggießen müsste. Der Canon-la-Gaffelière hatte zwar in der Nase einen deutlichen Alterston und wirkte zu Anfang etwas kräuterig mit hoher Säure. Er baute im Glas aber gut aus und entwickelte eine durchaus noch spannende Aromatik. Mit feiner Süße und schöner Länge am Gaumen war dieser insgesamt sehr harmonische, ausgewogene Wein immer noch ein Trinkgenuß 90/100.
Der im Vergleich dazu getrunkene 1947 Grand Mayne muss irgendwann in seiner Entwicklung stehen geblieben sein. Junge Farbe, die ein viel niedrigeres Alter vorgauckelte, etwas stahlige, kompakte Frucht, immer noch etwas tanninlastig wirkend. Kann sich auf diesem Niveau ohne weiteres noch 10 Jahre halten 88/100.

Der nächste Vergleich war etwas unfair. 1952 Canon-la-Gaffelière wirkte zu Anfang leicht oxidiert und zeigte in der Nase medizinale Töne. Das gab sich jedoch rasch. Auch dieser Wein baute sehr schön im Glas aus und entwickelte sich zu einem komplexen, erstaunlich frischen Wein mit kräftiger Säure. Dabei auch etwas bäuerlich rustikal und sicher noch etliche Jahre haltbar 91/100.
Grandios wieder der 1952 Vina Real Reserva Especial von CVNE. Klar, der ließ im Vergleich etwas die Komplexität eines großen Bordeaux vermissen. Aber was für ein Wahnsinnsteil! Die große Hedonistenoper mit toller Süße. Spaß ohne Ende und kein bischen müde 95/100.

Graf Neipperg hielt den 55er an diesem Abend für den schwächsten. Ich kann das nicht nachvollziehen. Beide Weine des 55er Flights wirkten noch sehr jung und zeigten eine erstaunliche Frische. Der 1955 Canon-la-Gaffelère war ein eleganter, sehr schmeichlerischer Wein mit feiner Süße. So stellt man sich einen gut gereiften St. Emilion vor 92/100.
Fantastisch der 1955 Domaine de la Gaffelière. Ein großer Wein mit toller Nase, sehr lang am Gaumen. Spannende Aromatik, im positiven Sinne etwas rustikal 94/100. Das Gut gibt es heute nicht mehr. Damit sind solche Weine, so sie denn überhaupt noch auftauchen, auf Auktionen ein guter Kauf. Da sie in Büchern nicht zu finden sind, schon gar nicht bei Gabriel und Parker, traut sich kaum jemand an solche Weine ran.

Bei allen drei Flights hatte Graf Neipperg den Canon-la-Gaffelère richtig erkannt. Nur beim letzten Flight, den 61ern, tippte er daneben. Das war allerdings auch ein unglaublich großer Wein, der 1961 Canon-la-Gaffelière in einer deutschen Bachmann-Abfüllung. Superjunge, dichte Farbe, fantastische Nase mit Röstaromen, Kaffee und schöner, malziger Süße. Am Gaumen viel Kraft und Länge, einfach ein kompletter, ganz großer Bordeaux, der selbst für das Traumjahr 1961 Maßstäbe setzt 97/100.
Da konnte der 1961 Angelus nicht mit. Er hatte eine hellere Farbe mit deutlichem Wasserrand, wenig Nase und offenbarte sich erst am Gaumen. Da ging es dann allerdings los, sehr vielschichtig und schmeichlerisch, viel Tiefgang und Länge, aber auch deutliche Säure 93/100. Ich habe diesen Wein allerdings schon deutlich besser getrunken.

Graf Neipperg mit dem 61er Canon-la-Gaffelière

Graf Neipperg mit dem 61er Canon-la-Gaffelière

Danach kamen zwei jüngere Canon-la-Gaffelières auf den Tisch. Höchst erstaunlich der 1988 Canon-la-Gaffelière. So dicht, so jung, so kräftig. Stephan Graf Neippergs Erstlingswerk ist erst ganz am Anfang der Genussreife 93/100. Hoffen lässt das auch für andere 88er. 1988 ist ein tanninreicher Spätstarter-Jahrgang, der noch für viele positive Überraschungen sorgen wird.
Überraschend gut hat sich auch 1999 Canon-la-Gaffelière entwickelt. Mit seiner dichten, jungen Farbe, der geilen, süßen, konzentrierten Frucht und den intensiven Röstaromen hielten wir dieses Riesenteil am Tisch für einen Edelkalifornier 94/100. Für dieses nicht gerade große Bordeaux-Jahr sicher ein Ausnahmewein. Dazu immer noch recht preiswert zu haben. Fehlt in meinem Keller, aber nicht mehr lange!