Von Hunderjährigen und anderen Senioren

Wie alt können gute Weine werden? Sind 100jährige zwangsläufig senil oder hin(über)? Zwölf erfahrene Weinnasen aus Deutschland, Österreich, der Schweiz und Italien gingen dieser Frage bei einer umfassenden Raritätenprobe auf den Grund.

Frisch und fröhlich der Apero, den wir auf Schorns neuer Terrasse genossen. Aber die 2001 Brauneberger Juffer Sonnenuhr Spätlese von Fritz Haag stammte ja auch aus diesem Jahrtausend. Traubig, fruchtig, immer noch jugendlich mit feinem Süße-/Säurespiel 92/100.

Und dann ging es gleich ins Eingemachte. Darf Champagner altern? Kann Champagner altern? Und schmeckt er dann noch? Keine Frage, wer Champagner mit Prickeln in der Nase und am Gaumen verbindet, wer Bubbles ohne Ende braucht, der sollte zu jungem Champagner greifen, oder bei etwas älterem Champagner zumindest zu frisch degorgiertem. Sehr reif und weinig war der 1961 Dom Perignon, Mousseux nur noch als ganz dezentes Prickeln am Gaumen spürbar. Reif auch die Farbe, in der Nase Brottöne, Brioche, am Gaumen sehr elegant, nachhaltig und nussig mit feiner Bitternote im Abgang 93/100. Die vor 10 Jahren getrunkene Zwillingsflasche hatte übrigens noch ein feinperliges, schönes Mousseux. Faszination pur im anderen Glas ein 1921 Orininal Dry Cuvée de la Victoire von Fred. Leroux. Von den Reben, die die Bombardements zwischen 1914 und 1918 überlebt hatten, hieß es auf dem Rückenetikett. 1921 war ein großes Champagnerjahr mit kleiner Ernte, in dem Moet&Chandon den ersten Dom Perignon produzierte. Klar war das hier inzwischen mehr Wein als Champagner mit tiefem Goldgelb. Begann mit einem leichten Stinker in der Nase, der aber rasch verflog, sehr elegant, cremige Textur, so balanciert und harmonisch, entwickelte sich enorm im Glas und zeigte immer neue Facetten, sehr lang am Gaumen 97/100. Würde ich gerne noch mal in 10 Jahren als Hundertjährigen trinken.

Vergleichsweise sehr jung wurde es mit dem nächsten Flight, drei gereifte, deutsche Auslesen zum ersten Gang aus Marcel Schiefers superber Küche. Die waren für sich ein Hochgenuss, aber gleichzeitig formidable Essensbegleiter. Wenn solche Weine auf einer Weinkarte im Bereich Süßweine versteckt werden, ist das nur die halbe Wahrheit. Leider kennen sich zuwenig Sommeliers mit der Harmonie zwischen Speisen und gereiften Spät- und Auslesen aus. Auf hohem Niveau schon etwas reif und müde die 1971 Bernkasteler Doctor Auslese von Deinhard mit etwas rustikalem Charme, baute aber im Glas mit der Zeit aus und entwickelte feine Honignoten 89/100. Eine süchtig machende Traumnase hatte die 1971 Wachenheimer Rechbächel Auslese von Bürklin Wolf, auch am Gaumen faszinierte dieser große, absolut stimmige Wein, soviel Spiel, generöse Süße, Harmonie pur, wunderbare Länge, baute enorm aus 96/100. Der frischeste Wein des Flights war die 1971 Wehlener Sonnenuhr Auslese Goldkapsel von S.A. Prüm, brilliantes Goldgelb, immer noch knackige Säure, in der Nase frische Babyananas, immer mehr reife Zitrusfrüchte, am Gaumen sehr vielschichtig, immer noch so jung 94/100. Da ist noch reichlich Zukunft angesagt.

Ein Solitär kam jetzt ins Glas. Die brilliante Farbe der 1911 Erbacher Steinmorgen Auslese von Anheuser&Fehrs im Stile der 71er deutete nicht auf das Alter hin. Feine Honignase, reifer Apfel, etwas Bienenwachs, am Gaumen nur ganz dezente Altersnote, wenig Süße, wirkte harmonisch trocken, aber dabei noch so unglaublich frisch, immer noch deutliche Säure, absolut stimmig und harmonisch 97/100. Wulf Unger, der mit am Tisch saß, konnte einiges zur perfekten Lagerung und Herkunft dieses und anderer, in den letzten Jahren versteigerter Anheuser-Wein erzählen. Der Begriff Gänsehautwein wird leider überstrapaziert, aber für diesen vitalen 100jährigen war er angemessen.

Jörg Müller hatte aus Sylt seine genialen Gänselebertörtchen mitgebracht, die perfekt von drei Süßwein-Ikonen ergänzt wurden. Der 1921 Doisy Daene Vandermeulen war meine bisher mit Abstand beste Flasche dieses Weines, gülden die Farbe, viel Süße, aber auch wunderbare Struktur, sehr fein, ätherische Noten, viel Kräuter, aber auch Eukalyptus, Minze und Kamillenblüten, Lebkuchengewürz, sehr elegant, fast filigran, ein Ausnahmewein, der immer noch frisch wirkt und im Stile ganz großer Sauternes noch etliche Jahrzehnte vor sich hat, so vielschichtig, baute enorm im Glas aus. Dreimal habe ich meine Noten nach oben korrigiert bis ich zur einzig denkbaren für diesen Ausnahmestoff kam 100/100. Kam übrigens aus erster Hand und bester Lagerung, was er in meinem Keller 25 Jahre fortsetzte. Da kam auf hohem Niveau die 1921 Maximin Grünhäuser Herrenberg hochfeine Beerenauslese aus einer Risikoflasche mit 8 cm Schwund nicht mit. Sehr dunkle Farbe, Reifetöne, aber immer noch spürbare Kraft, erinnerte etwas an einen Sherry Amontillado, immer noch gute Säure 91/100. Wie gut, dass Oliver Speh, der uns perfekt umsorgte, ein Glas aufhob. Gut vie Stunden später explodierte der Herrenberg förmlich im Glas, wirkte jünger, druckvoller, ein völlig anderer Wein 97/100. Ein absolutes Lehrbeispiel dafür, dass man einen Wein nicht zu früh abschreiben sollte. Blind hatte uns Oliver diesen wie alle anderen Flights auch serviert. So ging dann die 1921 Steinberger Edel-Beeren-Auslese von Anheuser&Fehrs mit ihrer brillianten, güldenen Farbe, mit ihrem feinen Süße-/Bitterspiel, mit dem Confit von Zwergorangen und der immer noch guten Säure auch wie ein perfekter, riesengroßer Sauternes durch, ein Wein wie vom anderen Stern 100/100.

Großartiger Charakterstofff dann ein 1911 Barolo Annata von Scanavino, sehr dichte, jünger wirkende Farbe, animalisch, medizinal, kräftig, zupackend, rustikal, balsamische Noten, hohe Säure, portig und Unteholz, ein komplexer, faszinierender Wein mit schöner Süße und Länge, baut enorm im Glas aus 94/100. Barolo-Liebhaber geben deutlich mehr.

Bevor wir uns weiteren Hunderjährigen widmeten, kamen erst mal ein paar "jung" 90jährige Bordeaux ins Glas. Fleischig und elegant zugleich mit dichter, noch recht junger Farbe der 1921 Lanessan, Schokolade, Ledersattel, aber auch verschwitzte Socken, dazu jede Menge Fülle, Kraft und Länge 94/100. Ein Wein, der es noch lange macht. Wie eine ältere, klassische Variante des 85ers wirkte 1921 Leoville las Cases, in der feinen Nase immer noch Fruchtreste, am Gaumen wunderbare Struktur, gestützt durch gute Säure 92/100. Erstaunlich fruchtig auch die Nase von 1921 Cantemerle aus einer perfekten Flasche, sehr elegant, süß, spielerisch, Margaux pur, deutlich frischer als die vor 10 Jahren getrunkene, aus dem gleichen Lot stammende Flasche 92/100. Und dann der Gau, eine vor sechs Monaten für diese Probe in Belgien erworbene Flasche 1921 Latour, trübe Farbe, hohe Säure, Klebstoff, Essig grrrrr!

Damit kamen wir zu den Hundertjährigen aus Bordeaux. Star dieses Flights war der 1911 Cantemerle, hell, aber immer noch intakt und mit Brillianz die Farbe, wunderbare Nase, filigran, elegant, pikant und einfach betörend, ging als großer, gereifter Pinot durch, was sich am Gaumen mit schöner Süße fortsetzte 95/100. Eine sehr generöse, süße, burgundische Nase hatte auch 1911 Lanessan, am Gaumen sehr präzise Konturen, voll intakt und noch lange nicht am Ende 94/100. Alte Lanessans sind einfach eine Bank. Sehr viel hatte ich mir von 1911 Gruaud Larose in einer perfekten Mähler Besse Abfüllung versprochen. Äußerlich war die Flasche perfekt, aber der Inhalt war trüb und erinnerte eher an eine Tube Uhu. Erstaunlich jung und dicht die Farbe des 1911 Margaux, immer noch Fruchtreste, verstärkt durch die immense Säure, wirkte sehr bissig und zupackend, glättete sich mit der Zeit im Glas etwas 87/100.

Ein Traumjahr war 1911 in Burgund. Kein Wunder, dass wir jetzt mit den Hunderjährigen aus Burgund einen Traumflight in die Gläser bekamen. Eigentlich bin ich Bordeaux-Freak, doch je länger ich Wein und speziell ältere Burgunder trinke, desto mehr begeistere ich mich für die großen, klassischen Pinots aus der Zeit vor 1960. Klar gibt es da auch jede Menge Mist, aber ein großer, reifer Burgunder aus gutem Jahr und bester Lagerung ist so ziemlich etwas vom Besten, das man als Weinliebhaber ins Glas bekommen kann. Fast ehrfürchtige Stille herrschte am Tisch, als wir dieses Quartett verkosteten. Dreimal kam ich nicht umhin, die Höchstnote zu ziehen für unwiderbringbare Weinmomente. So dicht, füllig, süß und exotisch war der 1911 Chambertin von Bouchard, so extrem vielschichtig mit gewaltigem, aromatischem Druck und generöser Süße, lang am Gaumen und einfach Weltklasse 100/100. Völlig anders in der Stilistik der 1911 La Romanée von Morin, sehr fein, sehr elegant, filigran, rie rote Leichtigkeit des Seins, aber dabei so nachhaltig und lang mit verschwenderischer Süße, da braucht es keine großen Schlucke, jeder einzelne Tropfen erzählt unendliche Geschichten, ein Wahnsinnswein, der enorm im Glas ausbaut 100/100. Wie eine Junior-Ausgabe des La Romanée wirkte der 1911 Vosne Romanée von Morin, ähnlich in der Stilistik, etwas kräftiger, aber nicht so elegant, sehr schöne Süße, würde als Solitär in jeder Probe brillieren, aber zwischen diesen Giganten reichte es "nur" für 96/100. Immer wieder bin ich bei älteren Burgundern überrascht, wie selbst kleinere Lagen punkten können. So dieser einfach 1911 Pommard von de Beuverand & de Poligny. Wirkte fast wie ein Zwilling des Chambertin, sehr dichte, deutlich jünger wirkende Farbe, explosive Aromatik, irre Süße, soviel Druck am Gaumen, so komplex und lang 100/100.
Eine schöpferische Pause war dringend angesagt nach diesem Flight. Gewaltige Eindrücke mussten erstmal verdaut werden. Das galt durchweg auch für die verwöhnten, erfahrenen Gaumen an unserem Tisch.

Geradezu blutjung wurde es anschließend mit drei perfekten, 50jährigen Magnums aus St. Emilion. Schon lange kein Geheimtipp mehr ist 1961 l Arrosée in der Barrière-Abfüllung. Immer noch so jung mit altersfreier, dichter Farbe, viel Schokolade, Süße, Fülle, Kraft, feine Kräuter, perfekt balanciert und sehr lang am Gaumen 96/100. Süße, Länge, Dichte auch beim sehr kräuterigen, komplexen 1961 Canon-la-Gaffelière, auch der immer noch so jung 95/100. Primus inter Pares war der schlichtweg atemberaubende 1961 Trottevieille, der aus solchen Flaschen zur Jahrgangsspitze gehört, einfach ein süßer, sehr aromatischer, kräftiger, am Gaumen nicht enden wollendender Traum 97/100. Alle drei Weine haben in solch perfekt gelagerten Magnums noch Potential für Jahrzehnte.

Aus 1tel Flaschen waren jetzt vier St. Juliens aus diesem Jahrhundertjahrgang angesagt. Erstaunlich fein mit pikanter, süßer Frucht und toller Struktur am Gaumen der 1961 Leoville las Cases, meine erste wirklich große Flasche diesen Weines mit reichlich Potential 94/100. Einfach dekadent süß und lecker der 1961 La Lagune, reifer Bordeaux vom Allerfeinsten, dabei sehr fein mit pikanter Frucht 96/100. Seidig, elegant der 1961 Gruaud Larose, einfach die Essenz von Cabernet, die recht hohe Säure zeigte hier aber, das der nicht mehr ewig lebt 95/100. Reif, süß und elegant 1961 Ducru Beaucaillou 94/100.

Überreife, nicht nur in der Nase, zeigte 1961 Gazin. Wurde im Glas mit der Zeit besser, aber den kenne ich deutlich größer 91/100. Ein Riese dagegen und noch ganz am Angang einer langen, weiteren Entwicklung 1961 l Evangile, dicht, kräftig, komplex, aber auch mit wunderschöner Süße und ewigem Abgang 97/100. Sehr schön trank sich mit feinem süßem Schmelz der trinkreife 1961 Petit Village 92/100. Eine dichte, junge Farbe hatte der 1961 Trignant de Boisset. Sehr kräftig war er am Gaumen, aber auch rustikal und monolithisch mit wenig Charme, die Schokolade aus dem Sonderangebot 87/100.

Und was macht man, wenn man aus so einem eigentlich mickrigen (Wein)jahr wie 1951 stammt. Man freut sich über die Ausnahme von der Regel, die in diesem Fall aus Rioja stammt. Drei perfekt gereifte Weine dieses Jahrgangs rundeten unsere Verkostung als 60jährige ab, und Franz Josef Schorn, der aus diesem Jahrgang stammt, strahlte. 1951 Marques de Riscal war auf hohem Niveau der kleinste Wein eines erstaunlichen Trios 92/100. Offen, karamellig-süß, aber auch elegant und nachhaltig der 1951 Imperial Gran Reserva von CVNE 95/100. Immer noch so jung mit viel Kraft und Länge, mit generöser Süße und viel Kaffee der unsterbliche 1951 Vina Real Reserva Especial von CVNE 96/100. Alle drei Weine sollten noch genügend Kraft und Lagerpotential für Franz Josefs 70. in 10 Jahren haben.