Gibt es in der Schweiz keine Karaffen?

Eine wunderbare Best Bottle war das im Kreise meiner Schweizer Weinfreunde im Kreuz in Emmen. Hochklassige Weine, großartige Küche, fantastische Stimmung da fehlte zum vollständigen Weinglück nur eines: Karaffen.

Über den Sinn und Unsinn des Dekantierens gibt es die unterschiedlichsten Meinungen. Eines aber dürfte unstrittig sein. Große, voluminöse Weine egal ob weiß oder rot brauchen das mehr oder weniger ausgiebige Bad in der Karaffe. Das gilt vor allem für Weinproben, in denen ein Wein ja spontan überzeugen muss. Wenn da ein großer, jüngerer Wein undekantiert im Glas landet, geht es ihm wie einem Top-Fußballer, der ohne Aufwärmphase kurz vor Spielschluss im Trainigsanzug eingewechselt wird und noch das Siegtor schießen soll. Null Chance. Da hilft es auch nicht, wenn die Weinflasche länger vorher geöffnet wurde. Geöffnet? Was soll denn dieses Quadratcentimeterchen Luftaustauschfläche bewirken? Eben, nichts. Da kann man den Korken auch gleich drin lassen.

Aber wie sollen wir das alles organisieren, bekomme ich oft zu hören. Und wo kriegen wir all die Karaffen her? In den Restaurants meiner Heimatstadt Düsseldorf, in denen wir Best Bottles organisieren, stehen nicht nur genügend Karaffen zur Verfügung, sondern in der Regel auch ein qualifizierter Sommelier, der die Reihenfolge der Flaschen festlegt und für perfekten Weinservice sorgt. Natürlich fällt dafür pro Nase ein kleiner Obolus an, der aber angesichts dessen, was da meist ins Glas kommt, nun wirklich keine Rolle spielen sollte.

Und wenn das alles nicht geht, weil die Beiz keine Karaffen hat, sich kein Sommelier auftreiben lässt und die Teilnehmer der Probe ohnehin zugenähte Taschen haben? Dann gibt es eine andere, sehr praktikable Lösung. Jeder Teilnehmer dekantiert seinen Wein bzw. seine Weine rechtzeitig zuhause selber, spült die Flasche aus und gießt den Wein nach der gewünschten Dekantierzeit in die Flasche zurück. Aus der wird der Wein dann später ausgeschenkt. Diese Lösung hat noch einen anderen, sehr charmanten Vorteil. Es dürfte eigentlich in derartig organisierten Proben keine korkigen Weine mehr geben.

Nicht dekantieren musste man die zwei schlanken, klassisch ausgebauten Rieslinge, die wir als Apero auf der Terrasse des Kreuz aus Gabriel Gläsern genossen. Immer noch taufrisch wirkte die 2002 Brauneberger Juffer Sonnenuhr Spätlese # 7 von Fritz Haag mit guter Säure, einfach die Leichtigkeit des Seins 92/100. Erstaunlich trinkbar wirkte die 2010 Wehlener Sonnenuhr Spätlese von JJ Prüm, allerdings mit intensiver, leicht apfeliger Säure, die analytisch sicher irgendwo im stratosphärischen Bereich lag. Aber sie wurde duch die reife Frucht und die schöne Süße gut abgepuffert, sicher ein Wein für 30 Jahre 91+/100.

Leicht stichig zu Anfang die Nase des 2008 Kongsgaard Chardonnay mit etwas Salmiakgeist, was mit der zeit verschwand, mineralisch, exotische Früchte, am Gaumen Kraft, Schmelz, Süße, aber auch etwas korpulent und dick wirkend 92+/100. Im anderen Glas die Selektion dieses Weines, der 2008 Kongsgaard The Judge, sehr kräftig, aber auch mit guter Struktur, burgundischer, sehr mineralisch, nussiger Auftritt, vanillig mit deutlichem Holzeinsatz, noch sehr jung wirkend 93+/100. Beide Weine fühlten sich im Gabrielglas recht wohl, doch fehlten ihnen zur richtigen Entfaltung 1-2 Stunden in einer Kraffe. Beide Weine hätten dann deutlich mehr gezeigt, was sich sicher auch in 2-3 mehr Punkten niedergeschlagen hätte.

Schön die Nase des 1983 Darmagi von Gaja, ledrig, Waldboden, Zedernholz, Trüffel, aber auch etwas Pepperoni, am Gaumen das krasse Gegenteil dazu, bissig, unreif, charmefrei und leicht ausgetrocknet 88/100. In dem Fall hätte auchkeine Karaffegeholfen. Der 83er war noch nie ein guter Darmagi, ganz im Gegensatz z.B. zum grandiosen 85er. Sehr enttäusch hat mich 1978 Sassicaia, den ich eigentlich nur als großen Wein kenne, mit deutlicher Bordeaux-Stilistik und an einen großen Mouton erinnernd. Die Farbe war immer noch dicht und intakt, aber die Nase harte Kost, staubig, alter Pappkarton, ziemlich fruchtfrei. Am Gaumen war der Sassicaia sehr sehnig mit immer noch reichlich trockenen Tanninen, sehr kraftvoll und mit enormer Länge 89/100. Sicher nicht die beste Flasche, trotzdem entwickelte er sich im Glas und legte deutlich zu. Recht früh wurde immer nach der Bewertung gefragt. Ich habe sie hier so angegeben wie in der Probe. Nicht nur dieser Wein zeigte mit Luft im Glas mit der Zeit deutlich mehr.

Und dann kamen wieder zwei Weine, die sich eher verkosteten wie unsanft geweckt. Der 1990 Trotanoy hatte zu Anfang eine süße, generöse, gefällige Nase, die etwas an billiges Leder erinnerte, am Gaumen feiner schokoladiger Schmelz 92+/100. Erst später, die Benotung war längst erfolgt, begann er, seine wahre Klasse zu zeigen, wurde in der Nase immer kräuteriger, dazu kam Lakritz, am Gaumen deutlich mehr Druck und Länge, eigentlich ein Wein in der 94*95/100 Klasse. Eine Affenschande auch 1986 Gruaud Larose, der sich hier völlig unter Wert verkaufte. Die Nase roch zu Anfang wie ein Plumpsklo in 3200m Höhe, was mit der Zeit wegging. Ein mineralischer, kräftiger, rustikaler Klotz mit enormer Kraft und Fülle, am Gaumen mit gewaltiger Struktur und massivem Tanningerüst 91+/100. Wer den im kühlen Keller hat, sollte ihn noch 10 Jahre liegen lassen oder zumindest morgens dekantieren und abends trinken.

Mit modernem, gefälligem Stil und geprägt von süßer, wahrscheinlich amerikanischer Eiche zeigte sich der sehr gefällige 2000 Vega Sicilia Valbuena 5 mit feiner. Süßer Cassis-Nase und immer mehr Veilchen, am Gaumen erstaunlich schlank 95/100. Sehr dicht und jung immer noch die Farbe des 1995 Pride Mountain Cabernet Sauvignon Reserve, ein gewaltiges, kräftiges Konzentrat mit satter, dunkler Frucht, Rumtopf, teerigen Noten, Holzkohle, am Gaumen etwas überladen wirkend, aber zweifellos ein großer Wein 94/100.

Ein Maul voll Wein war der sehr füllige, reife, schokoladige 1999 Circsion mit viel Cassis, dabei nicht überladen, sondern mit viel Finesse und schöner Länge, ein sehr moderner Rioja-Stil und einfach sexy 95/100. Schon lange hatte ich nicht mehr den 1996 Penfolds Cabernet Sauvignon Bin 707 im Glas. 1999 hatte ich davon im Duty Free des Londoner Flughafens zwei Flaschen erworben, aber recht zügig danach verklappt. Sehr angetan war ich jetzt davon, wie sich dieser Wein entwickelt hat. Fantastische Nase mit herrlicher Frucht, Cassis, Eukalytus, Minze und bestechender Frische, am Gaumen Kraft und Länge gepaart mit wunderbarer Finesse, Zukunft ohne Ende 96/100.

Schlichtweg ein Traum der erste Schluck des ultrararen 2006 Miani Refosco Calvari, ich fing gerade an, mich über den bisher besten Wein des Abends und ein großartiges Weinerlebnis zu freuen, da kam dieser ekelhafte Kork zum Vorschein und wurde immer stärker. Schlichtweg ein Alptraum. Gemischte Gefühle hatte ich beim 2002 Torbreck The Factor. Auf der einen Seite ist dieses Hammerteil dicht, dick und kräftig mit reifer, beeriger Frucht und weichen Tanninen, die Nase springt förmlich aus dem Glas und vermittelt den Eindruck australischer Hitze, einfach too much für den Sohn meines Vaters, dachte ich mir da. Und dann kam der Gaumen mit völligem Kontrast zur Nase, so ausgewogen, sogar fein mit enormer Länge. Das wiederum gefiel mir dann gut 95/100.

Erstaunlich reif, sehr weich, fruchtig, geradezu schmusig der 1994 Stag s Leap Cask 23, Leder, Minze und ein Hauch Eukalytus, voll auf dem Punkt 94/100. Das konnte man vom 1987 Heitz Martha s Vineyard nicht sagen. Ein zupackendes Tier von Wein, das eigentlich 10 Stunden vorher in eine Karaffe gehört hätte. Irritierend zu Anfang die Nase, aber das war kein Kork, das war eben Heitz und der Altersgeiz von Joe Heitz. Mit neuen Fässern wäre die Nase sauberer gewesen. Wirkte etwas harzig mit viel Minze und Eukalyptus, Kraft ohne Ende und immer noch gewaltiges Potential. Da lohnte es, das Glas eine Weile stehen zu lassen. Enorm, wie der ausbaute und Gas gab. Meine Bewertung ging mit jedem Schluck weiter nach oben. Bei 96/100 war leider das Glas leer.

Und damit waren wir dann beim Flight des Abends mit den beiden nicht nur bei mir höchst bewerteten Weinen. 2000 Tertre Roteboeuf ist für mich ein klarer Jahrhundertwein. In den Arrivageproben hatte ich ihn mehrfach mit 100/100 im Glas und da bewegt er sich nach kurzer, verschlossenerer Phase wieder hin. Traumstoff mit explosiver Aromatik, süchtig machender Nase und ewiger Länge 98+/100. Der 1998 Tertre Roteboeuf ist vielleicht nicht ganz so druckvoll und komplex wie der 2000er, aber zum jetzt und heute trinken unterscheidet er sich nur dramatisch im Preis, einer der Topweine des Jahrgangs, jetzt in bestechender Form, die er sicher noch 5+ Jahre halten wird 97/100.

Voll trinkbar und auf dem Höhepunkt war der 2001 Quorum Barbera de Asti, erdig, mineralisch, Teer, Leder, reife Kirschfrucht. Barbera ist eigentlich nicht mein Wein, aber in der Form könnte ich mich daran gewöhnen 94/100. Gehört aber sicher in den nächsten Jahren getrunken. Mit Brunello hat der 2001 Brunello di Montalcino Cerretalto Casanova di Neri wenig zu tun. Eher ist dieses gewaltige Konzentrat mit seiner puristischen, geradlinigen, dicht gewobenen Frucht, der Minze und immer mehr Veilchen eine hypothetische Mischung aus Latour und Hermitage la Chapelle. Bleibt ewig am Gaumen, aber nur kurz im Glas. Ich wollte es genau wissen und habe diesen Wein ein paar Tage später im Saittavini noch mal probiert, allerdings rechtzeitig dekantiert. Da ging dann richtig die Post ab, aus Ahnen wurde Gewissheit. 100 bei Suckling, 95 bei Galloni und 97 bei mir.

Tief hatten meine Schweizer Freunde in ihre Keller gegriffen, und der Abend hat (auch ohne Karaffen) sehr viel Spaß gemacht. Während wir auf die anrollenden Taxen für den Heimtransport warteten, verklappten wir noch schnell eine 2002 Ürziger Würzgarten Auslese* von Christoffel aus der gut sortierten Karte des Kreuz. Damit landeten wir dort, wo wir angefangen hatten. Auch dieser animierende, den Gaumen belebende Wein war immer noch so taufrisch. Die 2002er von der Mosel mit ihrer guten Säure scheinen das ewige Leben gepachtet zu haben.