Bordeaux 1988, 1989 und 1990

Welches ist der beste der drei Bordeaux-Jahrgänge 1988, 1989 und 1990? In einer umfassenden Probe wollte das die berühmte "Linzer Gang" herausfinden. Ein strammes Programm lag dabei vor den Verkostern. Sechzehn Chateaus mit je drei Weinen macht insgesamt 48 Gläser. Da waren gute Kondition, Durchhaltevermögen und eine kluge Strategie gefragt. Unmöglich, diese Menge bei 12 Verkostern 4 Flaschen pro Nase zu bewältigen. Was tun? Spucken? Kommt für mich bei großen Weinen eigentlich nicht in Frage. Nur vorsichtig nippen und Teile wegschütten? Sicher eine Möglichkeit, aber bei großen Weinen wie z.B. den Premiers eigentlich eine Affenschande. Ich habe mich also halbwegs durchlaviert, war eigentlich dankbar für jeden fehlerhaften Wein und konnte nach der Probe sogar noch aufrecht gehen.
Grand Puy Lacoste und Pape Clement machten im ersten Flight den Anfang. 1988 Grand Puy Lacoste konnte nicht richtig begeistern. Wenig Frucht, viel Zedernholz, immer noch ruppige Tannine, wirkte etwas sperrig 86/100. Dürfte nicht mehr viel Zukunft haben. Deutlich zugänglicher, offener mit reifer, süßer Frucht der 1989 Grand Puy Lacoste, den ich allerdings in der letzten Zeit schon mehrfach deutlich besser im Glas hatte 91/100. Heute musste er sich gegen 1990 Grand Puy Lacoste geschlagen geben, der von beiden diesmal einfach der deutlich kräftigere, fülligere Wein war, immer noch jung wirkend mit guter Länge und schöner Frucht 94/100. Völlig anders die Reihenfolge beim zweiten Wein. 1988 Pape Clement war erstaunlich offen, weich und zugänglich 92/100. 1989 Pape Clement hatte diesmal die Nase vorn, ein wunderbarer Wein mit Eleganz, Fülle und schöner Süße 93/100. 1990 Pape Clement, den ich blind für 88 gehalten hatte, war sehr kraftvoll und von massiven Tanninen geprägt, entwickelte sich nur zögerlich im Glas, deutet sein großes Potential aber an 91+/100.
Mit einem üblen Kork, nicht dem einzigen in dieser Probe, schied 1988 Rausan Ségla aus der Wertung aus. 1989 Rausan Ségla war ein weicher, eleganter, schon sehr reifer Schmeichler 89/100. 1990 Rausan Ségla dagegen ist kräftiger, jünger und hat sicherlich deutlich mehr Potential, wird aber derzeit noch von deutlichen Tanninen geprägt 88+/100. Auf erheblich höherem Niveau als bei den Rausans war für mich der 1990 Palmer der schwächste Wein des Trios. Ein finessiger, säurearmer, weicher Wein mit etwas dünner, ausrucksloser Nase, der seinen Höhepunkt zumindest schon erreicht, wenn nicht gar überschritten hat 91/100. Deutlich jünger wirkte 1989 Palmer, der sich noch recht kompakt und bissig präsentierte und durch die massiven Tannine nur ansatzweise seine Größe zeigte 92+/100. Mir gefiel im direkten Vergleich zum jetzigen Zeitpunkt 1988 Palmer am besten. Auch der noch lange nicht reif und mit viel Potential. Aber mit seiner leicht stalligen und von schmelziger Frucht geprägten Nase und dem kraftvollen Gaumenbild war das ein hochinteressanter Charaktertropfen, ebenfalls noch mit viel Potential 93+/100.
Noch längst nicht alles zeigte 1988 Pichon Baron, ein fleischiger, derzeit etwas zurückhaltener Kraftbolzen mit Zedernholz und pflaumiger Frucht, da kommt in ein paar Jahren noch deutlich mehr 90+/100. Leider fehlerhaft war 1989 Pichon Baron. Der roch, als ob jemand auf einem Gummiboot ein Lagerfeuer angezündet hätte. Schade, den das ist sonst ein großartiger Wein, auf einem Niveau mit 1990 Pichon Baron. Letzterer war einfach großartig, die Kraft und die Herrlichkeit. Verschwenderische, hedonistische Frucht mit schöner Fruchtsüße und dazu ein sehr kraftvoller Auftritt mit toller Länge. Wer den gespuckt hat, dem ist wirklich nicht mehr zu helfen 95/100. Auch bei der Comtesse schien es der 89er zu sein, der fehlerhaft war. 1989 Pichon Comtesse roch nach Pferdepisse und Brauner Biotonne, war am Gaumen nur marginal besser. Schade, das ist normalerweise ein großer, hedonistischer Wein, voll da und anmachend, einfach sexy. Bei der 1990 Pichon Comtesse kann von sexy nur sprechen, wer darunter ein dürres Gestell ohne Oberweite mit Nickelbrille und Dutt versteht. Sehr enttäuschend für den Jahrgang, unbelehrbare Fans werden sich auf einen klassischen Wein rausreden 88/100. Gut entwickelt hat sich 1988 Pichon Comtesse. Merlot-betont, reif, füllig, schokoladig mit viel Schmelz, aber auch genügend Rückrat für eine längere Entwicklung 93/100.
Wer Angst hatte, bei der Masse an Wein unter die Räder zu kommen, musste nur die leider doch in größerer Zahl vorkommenden, fehlerhaften Weine weglassen. Und mit 1989 Vieux Certan traf es schon wieder den Jahrgang 89. Drahtig, schlank mit wenig Fett der aber sehr schön trinkbar der 1988 Vieux Certan 90/100. Gut gemacht hat sich der inzwischen reife 1990 Vieux Certan, schokoladige Fülle, für einen Vieux Certan erstaunlich üppig 93/100. Bei l Evangile war der 89er nicht fehlerhaft, der war einfach nur schlecht wie immer. Wer als Kellermeister in einem solch großen Jahrgang einen derart erbärmlichen Mickerling wie 1989 l Evangile erzeugt, der sollte über seine Berufswahl noch mal nachdenken 85/100. Da war selbst der etwas zurückhaltende 1988 l Evangile mit seiner kühlen Eleganz noch gelungen gegen 90/100. Grandios hingegen 1990 l Evangile. Ein großer, druckvoller, reifer Vollblut-Pomerol, burgundisch elegant und einfach schön 95/100.
Eine immer noch sehr dichte, junge Farbe hatte 1988 Ausone, nur in der Nase und am Gaumen war nicht viel los. Ob der die 88er Kurve noch nicht kriegt? Bissig, zugenagelt, aber mit spürbarem Potential 88+/100. Nicht viel anders der noch etwas dichtere, konzentriertere 1989 Ausone. Auch hier sind noch reichlich Geduld und Hoffnung angesagt 91/100. Mit ziemlicher Sicherheit wird dieser Wein wohl seine heutigen Besitzer überleben. Der offenste der drei war 1990 Ausone. Auch der hat noch viel Tannin, zeigt aber neben der klassischen, kräuterigen Art viel Frucht und eine süße Fülle, endlich mal ein gut trinkbarer, großer Ausone, den man nicht schönreden muss 94/100. In einer anderen Liga waren die drei anderen Weine, zumindest erst einmal von der Nase her. Dieses unbeschreibliche Cheval Blanc Parfüm, das alle drei Weine verströmten, das hatte richtig was. Da könnte ich stundenlang dran riechen. Am Gaumen kam 1988 Cheval Blanc mit dieser tollen Nase nicht mit. Da war er eher etwas kompakter und verhaltener, aber das kann sich mit den nächsten Jahren noch etwas geben. Wenn die Frucht durchhält, könnten da nach Abschmelzen der derzeit immer noch harschen Tannine noch mehr rauskommen, als die heutigen 90/100. Sehr schön entwickelte sich im Glas der anfangs ebenfalls sperrige 1989 Cheval Blanc. Der wurde süßer, fülliger, verschwenderischer und deutete ein großes Potential an, von dem ich nach soviel enttäuschenden Flaschen nicht mehr zu träumen gewagt hätte 94+/100. Und dann war da noch der Star der Probe, 1990 Cheval Blanc. Was für ein dekadent-üppiger, reifer, offener, einfach dekadent schöner, süßer Wein, eindeutig die Wiedergeburt des 47ers. Und da letzterer sich seit über 50 Jahren gleichmäßig gut trinkt, besteht beim 90er wohl keine Gefahr des kurzfristigen Abnippelns. Eher ist bei diesem extrem hohen Suchtfaktor die Gefahr vorzeitigen Austrinkens gegeben. Klare 100/100.
Als bekennenden La Mission-Fan irritierte mich der nächste Flight etwas. Alle drei La Missions waren den entsprechenden Haut Brions unterlegen. Dafür hatte ich eigentlich nur eine Erklärung, zuwenig Zeit, zuwenig Luft, zu kleine Gläser. So kam der 1988 La Mission, den ich in diesem Jahr schon mit bis zu 97/100 im Glas hatte, nur als grundsolider La Mission mit 90/100 durch die Zielgerade. Auch der schon ähnlich hoch bewertete 1988 Haut Brion, von La Mission im Frühjahr des Jahres in einem über Stunden dauernden Duell von La Mission ganz knapp geschlagen, brachte es diesmal nur auf 91/100. 1990 La Mission musste sich mit 94/100 dem offenen, sehr reifen, dekadent leckeren 1990 Haut Brion mit 96/100 geschlagen geben. Auf extrem hohem Niveau lag dann auch 1989 Haut Brion mit klaren 100/100 vor dem noch etwas zu jung wirkenden 1989 La Mission 98+/100.
Lafite und Mouton hieß das nächste Duell, das auf deutlich niedrigerem Niveau stattfand. 1990 Mouton Rothschild war sehr gefällig und reif, weich am Gaumen, aber dafür ausladend mit feinen Röstaromen auf 92/100 Niveau. Etwas darunter der nicht ganz so generöse und am Gaumen recht schlanke 1989 Mouton Rothschild 91/100. Klarer Sieger hier der immer noch sehr junge, konzentrierte 1988 Mouton Rothschild 96+/100. Sehr enttäuschend der total verschlossene 1988 Lafite Rothschild, bei dem ich aber die Hoffnung noch nicht aufgegeben habe 86+/100. Überboten wurde der in der Kopfschüttel-Wertung nur noch von 1985 Lafite Rothschild, der mit einer seltsamen, seifigen Aromatik gar nicht ging 85/100. Wie gut, dass ich beide Weine besser kenne. Auch der eigentlich deutlich bessere 1990 Lafite Rothschild kam über 92/100 nicht hinaus.
Im letzten Flight schlug dann die an diesem Tag grassierende 89er Seuche noch mal zu. Schlimm und völlig daneben 1989 Margaux. Der wurde nur noch von 1989 Latour mit einem ekelhaften Kork übertroffen. Um den Latour war es nicht so schade. Den hatte ich noch nie gut im Glas. Um so mehr aber um den Margaux, den ich mir deshalb ein paar Tage nach der Probe noch mal gegönnt habe, ein sehr feiner, eleganter Margaux mit delikater Frucht und massivem Tanningerüst, macht jetzt schon Spaß, aber da kommt noch mehr - 94+/100. Da könnte der doch etwas anstrengend wirkende 1988 Margaux in 10 Jahren auch mal hinkommen 89+/100. Das gilt ähnlich auch für den 1988 Latour, ein gewaltiges Konzentrat, bei dem der Spaßfaktor in 10 Jahren nachgeliefert wird 90/100. Eigentlich ist 1990 Latour ein Spaßwein par Excellence mit üppig-schokoladiger Nase und schon ins Exotische gehender Aromatik. Doch hatte ich hier das Gefühl, dass sich dieser großartige Wein, dem allgemein keine große Lebenserwartung mehr nachgesagt, derzeit etwas verschließt. Gut möglich also, dass dieser Wein uns in 20-30 Jahren eine lange Nase zeigt 95+/100. Großartig 1990 Margaux, kein typischer Margaux zwar und statt mit dem klassischen adeligen Charme hier eher sehr offenherzig und nuttig wirkend, aber einfach so dekadent lecker, mit geiler Nase, viel Süße, fast exotisch und kalifornisch anmutend, ein Spaßwein par Excellence 97/100.

Erstes Fazit der Probe, die im sehenswerten Linzer Szenetreff "Josef" stattfand: sie hat viel Spaß gemacht, wir wurden kulinarisch bestens verwöhnt und die ehrenamtlichen Sommeliers haben sehr gute Arbeit geleistet. Zweites, klares Fazit dieser Probe, die natürlich nur eine kleine Momentaufnahme dieser Weine bieten konnte: derzeit ist 1990 der größte der drei Jahrgänge. Immenses Trinkvergnügen bereiten fast alle 90er derzeit. Wohl dem, der davon reichlich hat. In Restaurants findet sich der Jahrgang kaum noch. Und wer nachkaufen will, muss dafür sehr tief in die Tasche greifen. "Smart Money" sucht deshalb heute die 88er. Klar brauchen die etwas Geduld, müssen vielleicht etwas früher dekantiert werden und wünschen sich das größte, verfügbare Glas. Aber dafür bieten sie nicht nur ein gutes Preis-/Leistungsverhältnis und eine großartige Zukunft. Bei entsprechender Behandlung kommt da auch heute schon viel Trinkspaß auf.
Und noch zwei Dinge sind wichtig. Vergessen Sie Jahrgangstabellen. Was nützt es Ihnen, wenn der Jahrgang groß, aber ausgerechnet der Wein, den Sie von der Karte ausgesucht haben, in diesem Jahrgang klein ist? Also besser den Sommelier fragen, als unter dem Tisch auf kleine Zettelchen gucken. Und noch etwas sollten Sie zwar nicht vergessen, aber in jedem Fall nicht zu ernst nehmen. Die Ergebnisse von Proben wie der hier beschriebenen. Da werden nun mal alle Weine über einen Kamm geschoren. Was bringt es Ihnen, wenn Wein A mit 93/100 besser abschneidet als Wein B mit 90/100, weil letzterer noch eine gute Stunde mehr Luft gebraucht hätte? Nichts. Da lieber Wein B gekauft, wahrscheinlich für weniger Geld, und dafür eine Stunde vorher dekantiert. Viele schlaue Zeitschriftenartikel und Bücher basieren auf Proben wie dieser hier. Und damit können sie Anhaltspunkte geben, aber mehr auch nicht. Punkte alleine sagen überhaupt nichts aus, entsprechende Punktetabellen auch nicht. Da gehört schon das Kleingedruckte mit dazu, und das gehört dringend mitgelesen.