Bordeaux-Höhepunkte aus 1990

Eigentlich hätten wir eine Gedenkminute einlegen müssen für die armen Schweine, die sich da zeitgleich mit schwarzen Zähnen in Bordeaux durch die mageren 2006er kämpften. Wir saßen stattdessen in kleiner feiner Runde zusammen und ließen uns von meinem Weinfreund Bernd Wirtz, diesem genialen Hobbykoch, zu grandiosen 90er Bordeaux kulinarisch auf das Feinste verwöhnen.

Mit drei deutschen Rieslingen starteten wir in diesen herrlich Abend. In die Pfalz hatte ich blind den 2002 Aulerde von Wittmann gesteckt. So stoffig, so kräftig und nachhaltig mit so praller, reifer Frucht, ein ganz großer Wein 94/100. Stilistisch und von der Klasse her kommen sich die guten Pfälzer Weine und die aus Rheinhessen immer näher. Dafür stand ich dann beim nächsten Wein völlig auf dem Schlauch. Das sollte 2002 Idig von Christmann sein? Völlig anders, als ich ihn kenne. Nicht mehr diese ungestüme Jugend, aber auch noch nicht richtig reif, irgendwo dazwischen und derzeit nicht in Bestform 91/100. Was uns letztlich nur daran erinnert, dass auch ein großer, trockener Riesling analog zu einem roten Bordeaux eine jugendlich-geile Fruchtphase hat, sich danach durchaus je nach Jahrgang verschließen kann und danach dann in voller Reife wieder aufblüht. Der beste der drei ein 2002 Morstein von Klaus Keller. Deutlich jünger wirkend, sehr kräftig und richtig kernig, ging mit unglaublichem Extrakt, guter Säure und sattem Steinobst auch vor einer Currysuppe nicht in die Knie. Ein Langstreckenläufer mit grandioser Zukunft, der sogar noch zulegen kann 95/100.

Bordeaux 1990, der zweite der berühmten Zwillingsjahre 1989/1990 gilt als nicht ganz unproblematisch. Reife, offene, hedonistische Weine, aber auch weniger Standvermögen als 1989 und einige Weine, die bereits schwächeln. Nachdenklich machte der erste Zweierflight. 1990 La Conseillante zeigte schon deutliche Reifetöne in der insgesamt erstaunlich hellen Farbe. In Nase und Gaumen der erste, spontane Eindruck gezehrte Frucht, Zedernholz, Bitternote im Abgang. Entwickelte sich dann sehr schön im Glas mit feiner Süße und viel Schmelz, war aber insgesamt sehr weit 93/100. Das war die bisher schwächste Vorstellung dieses Weines, den ich bisher immer mit 95-97/100 im Glas hatte. Unabhängig davon, ob es da unterschiedliche Flaschen gibt, scheint zumindest bei normal temperierten Kellern baldiger Verzehr angesagt. Zu einem echten Problemfall scheint sich 1990 Troplong Mondot zu entwickeln. Was war das zur Jahrtausendwende noch ein prachtvolles Gewächs! Jetzt kam er zwar mit satter Farbe, pflaumiger Frucht und recht schokoladig ins Glas, doch war da auch in der Nase bereits störende, flüchtige Säure, die immer stärker wurde. Eindeutig fehlerhaft war dieser einstmalig große Wein. Der erste Schluck war noch gut, dann ging es rapide bergab. Nach mehreren, bedenklichen 90er Troplong Erlebnissen in den letzten 12 Monaten, alle unter 90/100, mach mir dieser Wein große Sorgen.
Vielleicht hatte der gute Bernd diese beiden Weine aber auch nur gezielt als Kontrastmittel an den Anfang gesetzt, denn jetzt ging es richtig zur Sache. 1990 Lafite Rothschild dürfte zu den langlebigeren Weinen dieses Jahrgangs gehören und war auch noch nicht ansatzweise reif. Ein Klassiker aus der Zeit, als Lafite noch keinen Konzentrator hatte mit immer noch strammem Tanningerüst, feiner, rotbeeriger Frucht und reichlich Zedernholz. Wirkte elegant und aristokratisch-zurückhaltend, ein 90er mit viel Potential und Zukunft 95+/100. Ganz anders der völlig atypische 1990 Latour. Das war ein Spaßwein par Excellence mit üppig-schokoladiger Nase, schon ins Exotische gehender Aromatik. Zwar auch mit Kraft und Struktur, aber auch sehr weichen Tanninen. Wird nicht zu den langlebigen Latours gehören 97/100. Wer ihn gekauft hat, um ihn zu trinken, sollte bald damit anfangen.
Einen großen Klassiker hatten wir in der nächsten Paarung und einen Blender. Eine supergeile Nase hatte 1990 Mouton Rothschild, Mokka, Kaffee, die große Röstaromen-Oper. Aber das war es dann auch. Am Gaumen kommt dann die große Enttäuschung, da ist einfach nichts dahinter. Mit 90/100 ist dieser Wein, an dem ich stundenlang riechen könnte, bestens bedient. Kluge Mouton-Fans greifen da ohnehin zum preiswerteren 93er. Der hat mindestens eine ähnlich faszinierende Nase, löst deren Versprechen dann aber am Gaumen auf 93-94/100 Niveau auch ein. Bordeaux in Reinkultur dann mit 1990 Dominus. Leicht animalische Nase, der klassische Cordier-Stinker, dunkle Früchte, immer noch junge, sehr dichte Farbe, am Gaumen kraftvoll und sehr dicht, aber nicht kalifornisch sondern mit der Noblesse eines ganz großen Bordeaux, perfektes Tanningerüst und eine Super Spannung am Gaumen. Die bisher beste Vorstellung dieses Meisterwerks, das sich gerade erst entwickelt und die meisten 90er Bordeaux überleben dürfte 97/100.
Absolut begeistert war ich auch von 1990 Leoville las Cases. Feinduftige, sehr elegant Nase mit roter und schwarzer Johannisbeere, irre Struktur und Kraft am Gaumen mit perfektem Tanningerüst, dabei sehr balanciert wirkend und schon mit sehr viel Genuss (an)trinkbar. Ein toller Wert mit Klasse, Länge und Zukunft 97/100. Absolute Funkstille dagegen beim in seiner Jugend so großartigen 1990 Cos d Estournel. Der wirkte völlig dicht und zugenagelt, unnahbar mit massiven Tanninen. Man spürt zwar Kraft und Länge, aber musikalisch wird da eher etwas tragendes von Brahms oder Bruckner gespielt. Einfach die nächsten 10 Jahre die Finger davonlassen. Auch der jetzt wieder kommende 82er Cos ist durch eine ähnlich, lange Schlafphase gegangen. Nur Weinmasochisten können sich derzeit mit dem 90er Cos auf deutlich unter 90/100 liegendem Niveau anfreunden.
Ähnlich zugenagelt, aber mit noch mehr Potential, zeigte sich 1990 Margaux. Rauchige, etwas speckige Nase, am Gaumen total verschlossen mit hart wirkenden, kräftigen Tanninen, ein schlafender Riese. Diese hier war wohl eine, ähnlich meinen eigenen, sehr kühl gelagerte Flasche. Aus wärmeren Kellern zeigt der 90er Margaux schon wieder etwas mehr. Bis er aber wieder die Traumform des letzten Jahrtausends erlebt, wo ich ihn mehrfach mit 100/100 im Glas hatte, dürften aber wohl noch 5-10 Jahre vergehen. Ganz anders 1990 Montrose, den ich noch vor drei Jahren auf Sylt aus einer völlig untrinkbaren Doppelmagnum erlebt hatte. Der zeigte jetzt erstmals wieder, dass er die 100/100 zurecht verdient. Ein unglaublicher, riesengroßer Wein, leicht animalisch, gekochte Früchte, Rumtopf, kräftige, aber inzwischen reife Tannine, auf sehr überzeugende Art edelrustikal mit toller Süße und Dichte, fantastische Länge am Gaumen. Ich bin kein großer Montrose-Fan, aber das hier ist wirklich ein Wein zum Niederknien.
Und noch einen Piraten hatte uns der Gastgeber untergeschoben, allerdings an der typsch "spanischen" Aromatik leicht als solcher zu erkennen. Der 1990 Vega Sicilia Unico ist voll trinkreif. Mit seiner leckeren, offenen, süßen Frucht macht er spontan an, ein faszinierendes Aromenspiel. Am Gaumen ist er recht komplex mit sehr guter Länge. Er erreicht zwar nicht ganz die Klasse der Unicos von 94 und 95, macht aber einfach auf hohem Niveau Spaß, so ein richtiger Millionärsschoppen für jeden Tag 95/100. Noch mehr Freude kam beim 1990 Pichon Baron auf. Was für ein Prachtstück von Wein, die Nase dem Mouton nicht unähnlich, nur noch deutlich druckvoller, am Gaumen schiere Kraft und Fülle mit schöner Süße und praller Frucht. Hat all das, was der Comtesse in diesem Jahr fehlt. Hedonismus pur, zum heute und die nächsten 15 Jahre trinken, möglichst aus großen Gläsern in großen Schlucken 96/100.
Der letzte Flight dieser interessanten Verkostung brachte den ersten korkigen Wein. 1990 Angelus hatte eine Superfarbe und wäre ohne den schnell immer übler werdenden Kork ein großer, ebenfalls hedonistischer, zugänglicher Wein auf 95/100 Niveau gewesen. Schade, ich hätte den Kork lieber beim 1990 Haut Brion gehabt. Das war zwar ein feiner Wein mit der klassischen Cigarbox-Nase, am Gaumen gefällig, weich, schmelzig und nicht sonderlich konzentriert. Elegant und finessig, doch in der Nase schöner als am Gaumen. Lange hatte ich das Gefühl, dass der 90er Haut Brion am 89er vorbeizieht. Mit bis zu 100/100 habe ich ihn 2001 und 2002 bewertet. Doch das scheint vorbei zu sein. Schon auf René Gabriels großer Haut Brion Probe war er deutlich vordergründiger und schwächer als 89. Jetzt an diesem Abend schien er seinen Weg abwärts fortzusetzen. Immer noch ein feiner Wein, aber mehr als 93/100 hatten wir da nicht im Glas.

Nein, wir hatten keine schwarzen Zähne und es ging uns saugut. Wer wissen möchte, was unsere Weinschreiberlinge über 2006 herausgefunden haben, dem kann ich insbesondere die Seite Planet Bordeaux ans Herz legen. Mario Scheuermann beschreibt dort in einer Art Tasting-Tagebuch sehr kompetent und realistisch, und man erkennt schnell, warum man statt der 2006er Subskription besser in reifere Jahrgänge investiert. Gut auch die Notizen von Peter Moser auf www.falstaff.at. Beide Seiten sind übrigens kostenlos. Sparen kann man sich aus meiner Sicht die kostenpflichtigen, aber ziemlich abstrus wirkenden Notizen von James Suckling auf www.winespectator.com. Parkers Notizen dürften, ebenfalls kostenpflichtig, ab Ende April auf seiner Seite www.erobertparker.com zu lesen sein.