Der Aufbruch des trockenen deutschen Rieslings

Der überwiegende Teil der deutschen Rieslinge sind heute trocken. Doch das war nicht immer so. In den 50ern, 60ern und 70ern, zum Teil auch noch bis in die 80er hinein war das vorherrschende Geschmacksbild bei Rieslingen der liebliche Wein. Der Wandel hin zu trockenen Weinen ist wohl vor allem den geänderten Küchenstilen zuzuschreiben. Frankreich war seinerzeit das Dorado der deutschen Foodies. Dort trank man trockene Weine zum Essen. Und mit den ersten deutschen Spitzenlokalen, mit Witzigmann und Co., entstand auch vermehrt der Wunsch nach deutschen Rieslingen, die zur neuen deutschen Küche passten. Viel herumexperimentiert wurde in den 80ern mit trockenen Rieslingen. Ich erinnere mich noch gut an ziemlich missglückte Experimente mit im Barrique ausgebauten Rieslingen. Der eigentliche Aufbruch des trockenen deutschen Rieslings begann dann in den 90ern. Diese Phase war das Thema einer großen Vergleichsprobe in Bonn, zu der zwei engagierte Weinsammler dankenswerterweise eingeladen hatten. In sieben spannenden Flights verfolgten wir die Entwicklung einzelner Güter in den 90er Jahren.

Der erste Flight war des Weinen des Gutes von Helmut Dönnhoff gewidmet. Das erfuhren wir natürlich erst später. Alle Weine wurden blind serviert. Und da unsere Geschmacksbilder von dem geprägt waren, was diese Güter in den letzten 10 Jahren produziert haben, lagen wir mit unserer Einschätzung, um welches Gut es sich handeln könnte, meist meilenweit daneben. Helmut Dönnhoff zum Beispiel, der in den 90ern geniale, restsüße Weine produzierte, allen voran die spektakulären Eisweine, musste seinen Stil erst finden. Mit den hervorragenden großen Gewächsen, die heute aus der Hermannshöhle und dem Dellchen kommen, hatten die Gewächse der 90er nicht viel gemeinsam. Edelfirne hatte die 1990 Hermannshöhle Spätlese trocken in der Nase, Petrol und reife Zitrusfrucht, sehr kräftige Säure am Gaumen, ging schon fast Richtung Zitronensaft, hatte Struktur und Charakter 90/100. Eine etwas muffige Nase hatte die 1997 Hermannshöhle Spätlese trocken, wirkte unsauber, flach und gezehrt, ziemlich nichtssagend, etwas diffus, weich, fast schlabberig 84/100. Die 1997 Dellchen Versteigerungsspätlese trocken hatte in der Nase einen Hauch von Mottenkugeln, wirkte sehr verhalten und schien die beste Zeit hinter sich zu haben, entwickelte sich dann aber doch noch im Glas und wurde mineralischer, gut balanciert 87/100. Das ist natürlich immer die Crux derartiger Proben. Wir hatten ein strammes Programm und konnten keinem Wein individuell die Zeit geben, die er vielleicht doch gebraucht hätte. Da war nichts mit "lassen wir stehen und probieren ihn in 2 Stunden wieder". Reine Momentaufnahmen also, ohne begleitendes Essen und ohne die Möglichkeit, die Entwicklung eines solchen Weines über längere Zeit und mehrere Gläser zu verfolgen. Das sollte man halt wissen, bevor man die Benotungen derartiger Proben als Dogma ansieht. Sie sind ein Indiz, nicht mehr und nicht weniger. Was aber für fast alle journalistischen Proben gilt, noch dazu, wenn die winzige Probenpfütze dann nicht mal getrunken, sondern gespuckt wird, was ich nach Möglichkeit vermeide. Die 1998 Hermannshöhle Spätlese trocken wirkte leicht seifig in der Nase, war am Gaumen schlank und säurebetont, wobei sich die Prilnote am Gaumen fortsetzte 83/100. Die 1998 Dellchen Spätlese trocken roch wie ein frisch geöffnetes Ahoi-Brausetütchen, Orangenzesten, knackige Säure, zeigte noch Frische 86/100. Die 1998 Oberhäuser Brücke Spätlese trocken hatte eine verhaltene, etwas staubige Nase, am Gaumen weich, cremige Textur, dezente Süße, etwas Boytritis, Bitternote im Abgang 88/100. Blass die Farbe der als Pirat dazu gestellten 1998 Burgberg Spätlese trocken vom Schlossgut Diel, noch sehr jung in der Anmutung, der schlanke Gaumen passt zur Farbe, baute im Glas aus und hätte sicher von mehr Luft profitiert 87/100. Auch mit der 2000 Hermannshöhle Spätlese trocken konnte ich mich nicht richtig anfreunden. Kräftige Farbe, roch wie frisch bestellter Acker und schmeckte wie ein rustikaler Pfälzer Bauernlümmel, füllig und kräftig 86/100. Grosses Erstaunen am Tisch, als Weine und Weingut aufgedeckt wurden.

Der Nächste Flight war einem der Pioniere des trockenen deutschen Rieslings gewidmet, Georg Breuer aus dem Rheingau. Großartig der sehr feine, fruchtige 1993 Nonnenberg, sehr mineralisch mit präziser Struktur, ein Wein mit Rasse und Klasse 95/100. Etwas dichter, fruchtiger, fülliger und süßer der ebenfalls hochkarätige 1993 Schlossberg 94/100. Beides zeitlose, praktisch altersfreie Weine, die noch lange Jahre vor sich haben. Würde ich immer noch bedenkenlos nachkaufen. Etwas leichter, weicher, aber sehr aromatisch, saftig, rund und rassig der 1994 Schlossberg 93/100. Der Pirat, ein 1996 Rottland Spätlese trocken vom Staatsweingut Kloster Eberbach, zeigte eine feine Kräuterwürze, war erdig, mineralisch, hoch spannend und vielschichtig, im Abgang weich 92/100. Fehlerhaft und kaputt schien der 1996 Schlossberg mit seiner Sauerkrautnase zu sein. Schade, die enorme Kraft am Gaumen zeigte, was wir dort verpasst haben. Seltsam auch die nächste Flasche, ein 1997 Schlossberg. Unharmonisch in der Nase und am Gaumen, alte Dame mit Toska-Parfüm, diffuse Süße, karamellig, völlig anders als die großartige Flasche, die ich erst 3 Tage vorher aus eigenen Beständen im D Vine getrunken hatte( WeinMomente Januar 2011, 94/100) 88/100. Rustikal, kräftig, verhalten, unspannend der 1998 Schlossberg, der sich im Glas etwas entwickelte 88/100. Fragen warf auch der 1999 Schlossberg auf, der zwar jung wirkte mit guter Frucht und viel Terroir, aber sich im Glas nicht entwickelte, sondern abfiel, vielleicht derzeit in einer schwierigen Phase 88+(?)/100.

Weiter ging es mit dem Weingut Künstler aus dem Rheingau. Grosse Klasse die 1992 Hölle Auslese trocken, mineralisch, finessig, dicht, rassig, enorm vielschichtig und immer noch so jung 94/100. Noch eine Spur drüber die in der Aromatik sehr ähnliche, aber noch etwas fülligere 1993 Hölle Auslese trocken 95/100. Sehr spannend, rassig, mineralisch und mit massiver Säure noch sehr jung und frisch wirkend die 1994 Hölle Auslese trocken 92+/100. So weit so gut, so kenne und liebe ich die Künstler-Weine. Aber was kam dann? Oxidativ und schlichtweg hin die 1996 Kirchenstück Spätlese trocken Versteigerung. Eine diffuse, süßliche Nase hatte die 1997 Domdechaney Spätlese trocken Versteigerung, der Gaumen wirkte ziemlich übel 81/100. Süßlich die Haribo-Nase der 1998 Stielweg Spätlese trocken, am Gaumen schlabberig und schwuchtelig mit deutlicher Bitternote 83/100. Die 1998 Hölle Spätlese trocken wirkte in der Nase wie ein alter, überlagerter Yoghurt, auch am Gaumen ooxidativ mit deutlichen Alterstönen 78/100. Milchig die Nase der 1998 Hölle Auslese trocken, auch am Gaumen war dieser Wein eher schwierig 85/100. Deutlich besser kenne ich die 1999 Hölle Auslese trocken, die vielleicht einen Fehler hatte, Pattex-Nase, wird süßer, viel Honig, etwas diffus wirkend 87/100. Immerhin habe ich diesen Wein, den ich schon über 10mal im Glas hatte, meist mit gut 10 Punkten mehr bewertet.

Eigentlich hatte ja Trimbach in einer Probe deutscher Rieslinge nichts zu suchen, aber da dieses Gut ja eine lange Tradidtion hervorragend alternder, trockener Riesling hat, passte es dann doch ganz gut. Mit dem 1983 Clos St. Hune bekamen wir dann auch den besten Wein der Probe ins Glas. Eleganz pur, sehr fein, rassig, nachhaltig und dabei fast schwerelos mit Fruchtsüße, Frische und unglaublicher Länge, immer noch so zeitlos jung wirkend mit Potential für sicher noch mindestens ein Jahrzehnt 97/100. Groß auch die 1985 Cuvée Frederique Emile, etwas kräftiger und dichter, nicht ganz so fein, aber ebenfalls mit unglaublicher Länge 94/100. Besser kenne ich 1985 Clos St. Hune, der hier kräftig und ziemlich heftig wirkte mit deutlicher Kräuternote und sich mit der Zeit immer mehr Richtung Bailey s Irish Cream entwickelte 88/100. Immer noch sehr jung, dicht und kräftig der 1986 Clos St. Hune, der noch eine längere Entwicklung vor sich zu haben scheint 90+/100. Nicht mein Ding war die 1990 Cuvée Frederique Emile, süß und diffus die Nase, am Gaumen Kinder Schokobons 85/100. Kräftig, eckig und rustikal der 1991 Clos St. Hune, der in einigen Jahren durchaus noch mal für eine Überraschung gut sein könnte 89/100. Großartig und schon erstaunlich zugänglich der 2001 Clos St. Hune, Honignase, sehr fein, elegant, schöner Schmelz, salzige Mineralität 95/100.

Damit landeten wir in Rheinhessen bei einem der dortigen Pioniere des trockenen Rieslings, dem Weingut Heyl zu Herrnsheim. Ein schwieriger Wein war der 1988 Niersteiner Bruderberg SL mit viel Säure und wenig Finesse, schon etwas schwermütig wirkend 84/100. Star dieses Flights war die 1992 Bruderberg Spätlese trocken aus zwei halben(!) Flaschen. Hell noch die junge Farbe, so ein feiner, eleganter, mineralischer, rassiger Wein mit dezenter Honigsüße, Kräutern und feinem Spiel 94/100. Floral die Nase der 1993 Bruderberg Spätlese trocken mit weißem Flieder, am Gaumen Fülle, Süße, Schmelz 90/100. Frisch gemähter Rasen in der floralen Nase der 1994 Bruderberg Spätlese trocken, viel Säure am Gaumen, wenig Freude 86/100. Holundernase beim ebenfalls säurebetonten, etwas rustikal und eckig wirkenden 1996 Bruderberg Spätlese trocken 86/100. Nasenfrei der 1997 Bruderberg Spätlese trocken, der nach überhaupt nichts riecht, dafür ist am Gaumen um so mehr süße, füllige Frucht, gut zu trinken 90/100. Eine schiefrig ölige Nase hatte die 1992 Orbel Spätlese trocken von St. Antony, nussig, Fülle, Kraft, Freude, das Öl in der Nase wird mit der Zeit ranzig, schwierig, hat mit Riesling nichts zu tun 80/100. Sehr fein und floral die Nase des 1992 Niersteiner Pettenthal SL von Heyl zu Herrnsheim, am Gaumen Süße, Fülle, Frucht, sehr balanciert, Trinkfreude 92/100. Eine etwas seltsame Sanitärnase hatte der 1992 Niersteiner Pettenthal SL von St. Antony, der Gaumen war auch nicht viel besser, ein grenzwertiger Wein - 76/100.

Kultstatus genießen Bernd Philippis Weine von seinem Gut Koehler-Rupprecht aus der Pfalz. Furztrocken war die kräftige 1990 Kallstadter Saumagen Auslese trocken "R", ein sehr mineralischer Wein mit Kalk ohne Ende und gewaltiger Länge 93/100. Beim nächsten Wein hatte sich einer unserer Gastgeber wohl im Keller vergriffen. Statt der großen trockenen Auslese bekamen wir die restsüße 1998 Kallstadter Saumagen Auslese ins Glas. Die wirkte ziemlich pappsüß und lies mit Wehmut an große Moselauslesen denken. Trotz jetzt ja 15 Jahren wirkte die 1997 Kallstadter Saumagen Auslese trocken "R" immer noch sehr jung. Ein Kraftbündel mit gewaltigem Potentail, das gerade erst anfängt, sich zu entfalten, sehr mineralisch und tiefgründig 92+/100.

Mit Korkfehlern waren wir bisher weitestgehend verschont geblieben. Das sollte sich jetzt im letzten Flight leider ändern. Wir blieben in der Pfalz beim Weingut Bürklin-Wolf. Sehr reife Farbe beim 1994 Ruppertsberger Gaisböhl Spätlese trocken, Süße, Kraft und Fülle 89/100. Sehr gezehrt die 1995 Ruppertsberger Gaisböhl Spätlese trocken, besteht nur noch aus Säure 78/100. Korkig und voll daneben die 1996 Ruppertsberger Gaisböhl Spätlese trocken. Kein schlechter Wein die 1996 Forster Kirchenstück Spätlese trocken, tolle Struktur, aber auch Säure ohne Ende 88/100. Korkig leider auch die 1997 Forster Kirchenstück Spätlese trocken, wobei sich in den Korkton eine deutliche Süße mischte. Fehlerhaft leider auch 1997 Forster Jesuitengarten Spätlese trocken. Hier verdarb ein deutlicher, schleichender Kork das Vergnügen. Furztrocken mit Säure ohne Ende die nicht gerade charmante 1998 Ruppertsberger Gaisböhl Spätlese trocken 86/100. Ein sehr schöner, balancierter Wein die 1999 Deidesheimer Hohenmorgen Spätlese trocken mit fruchtiger Fülle und cremiger Textur 91/100. Groß zum Schluss die 1999 Forster Pechstein Spätlese trocken mit toller Frucht, Länge, Kraft und Fülle 93/100.

Kann trockener deutscher Riesling altern? Die Frage lässt sich nicht erst seit dieser, hoch interessanten Probe mit einem klaren Ja beantworten. Bleibt als zweite Frage, ab trockener deutscher Riesling altern muss und wie lange. Die Antwort hierauf ist schon diffiziler. Persönlich trinke ich einfache Qualitäten auch schon mal sehr jung. Bei größeren Weinen bevorzuge ich ein paar Jahre Reife, 5 Jahre sollten es bei Weinen aus dem eigenen Keller schon sein. Ab 10 Jahre bringt nach meiner Erfahrung weitere Lagerung bis auf extreme Ausnahmen keinen Gewinn an Komplexität. In Restaurants, auch solchen der gehobenen Kategorie, stellt sich die Frage leider nicht. Hier beschränkt man sich meist auf die letzte verfügbare, allenfalls die vorletzte Ernte. Dem tragen inzwischen auch viele Güter Rechnung. Ein Großteil der trockenen, deutschen Rieslinge, auch der überwiegende Teil der Großen Gewächse, kommt heute trinkfertig auf den Markt, in vielen Fällen nach meinem Geschmack sogar viel zu trinkfertig und poliert. Inwieweit diese Gewächse überhaupt größeres Alterungspotential haben, wird in ein paar Jahren mal ein spannendes Probenthema.