Grosse Weine aus kleinen Flaschen

Was macht man, wenn man in kleinerer Runde eine größere Anzahl interessanter Weine verkosten möchte? Man greift einfach zu halben Flaschen.

Vor einem Jahr haben wir diese Probe an gleichem Ort in gleicher Runde durchgeführt. Damals hatte ich spontan im Keller entschieden, für unsere Verkostung einfach nur halbe Flaschen mitzunehmen. So konnten wir die doppelte Anzahl an Weinen verkosten. Halbe Flaschen fristen unverdient ein Schattendasein. Auf Weinkarten werden sie, wenn überhaupt vorhanden, meist verschämt am Ende auf einer Seite aufgeführt. Gedacht sind sie wohl hauptsächlich für Autofahrer. Dabei sollten die eigentlich überhaupt nichts trinken, denn wer anfängt, Gläser zu zählen, hat eigentlich schon verloren. Auch im Weinhandel spielen die Halben nur eine untergeordnete Rolle. Ich subskribiere deshalb seit langem stets in größeren Mengen halbe Flaschen und greife auch auf Auktionen beherzt zu.

Ort des diesjährigen Vergnügens war wieder das Dado in Oberkassel, wo uns Yves Deval-Block fantastisch bekochte. Der Abend selbst wirkte längst nicht so kalt wie die Temperaturanzeige. Also beschlossen wir, den Apero auf der kleinen Terrasse einzunehmen. Die liegt sehr geschützt. So dehnten wir unser Freilufttrinken erst auf die Vorspeise aus, dann auf den Hauptgang und schließlich auf das gesamte Wine & Dine Vergnügen. Unser Apero bestand aus zwei halben Flaschen vom Weingut Fritz Haag. Keinerlei Alter zeigte die 1983 Brauneberger Juffer Sonnenuhr Auslese #14. Wunderbar die Nase mit traubiger Frische und einem Bund frisch gerupfter Gartenkräuter und Gräser, am Gaumen perfekt balanciert mit hohem Extrakt, dezenter Süße und immer noch guter, reifer Säure, einfach Harmonie pur, so elegant, so filigran und doch so nachhaltig, eine große Auslese in perfektem Trinkstadium mit der unnachahmlichen Handschrift von Altmeister Wilhelm Haag, ohne Eile die nächsten 10+ Jahre auf diesem Niveau trinkbar 94/100. Da kam die 1992 Brauneberger Juffer Sonnenuhr Auslese #6 nicht mit, die sich in einer Art Übergangsstadium zu befinden schien. In der Nase etwas überreife Frucht, Aprikose, aber auch ein Hauch Pappkarton, am Gaumen eine vor allem im Vergleich zum 83er etwas aggressiver wirkende, dominierende Säure, wirkte zum Essen etwas besser 89/100. Grosse Riesling-Auslesen durchlaufen ähnliche Zyklen wie Rote Bordeaux. Etwa zwei Jahre nach der Ernte beginnt eine unwiderstehliche Jungweinphase mit überbordender Frucht, intensiver Süße und hoher Säure. In diesem Stadium habe ich schon so manche Kiste komplett vernichtet. Dann kommt nicht plan- oder vorhersehbar nach ein paar Jahren eine Phase, in der die Weine zu sich finden müssen und wenig Spaß machen. Die kann verdammt lange dauern. Wenn eine solche Auslese dann aber reif ist, nach etwa 15-30 Jahren, dann ist das der Himmel auf Erden. Wer den vollendeten Gleichklang großer, reifer Moselrieslinge und entsprechender Küche einmal auf höchstem Niveau erleben möchte, der sollte Hubi Scheidt im Schloss Monnaise in Trier besuchen. Hubi Scheidt ist, wenn er will(!), einer der großen deutschen Köche. Und wenn Sie ihn bitten, Ihnen ein schönes Menü mit begleitenden, reifen Rieslingen zu machen, dann will er bestimmt.

Bedenken hatte ich erst beim 1953 Petrus in einer englischen Abfüllung von John Avery. Verdammt reif war schon die Farbe mit deutlichen Brauntönen, reif auch die rosinige Nase mit deutlich Liebstöckel, und auch am Gaumen war dieser Wein nicht mehr der Jüngste. Doch machten wir diesmal nicht denselben Fehler, wie bei der Zwillingsflasche vor 3 Jahren. Diesmal ließen wir ihn einfach eine Weile stehen. Enorm, wie der Wein sich mit Zeit und Luft entwickelte, und in Glas und Karaffe den Turbo einschaltete. Aus dem vermeintlichen Greis wurde zwar kein jugendlicher Liebhaber, aber ein großer, reifer Pomerol, samtig, weich, sehr gefällig mit malziger Süße, schokoladiger Opulenz und sehr hohem Spaßfaktor 95/100. Da kam der 1945 Belgrave aus Haut Medoc im Nachbarglas aus einer perfekten Flasche (bn) nicht mit. Der hatte zu Anfang die gemüsige Nase älterer Riojas und war am Gaumen kompakt mit deutlicher Bitternote und strenger Säure. Auch der entwickelte sich aber gut mit Luft, wurde weicher, generöser, druckvoller und zeigte immer noch viel Substanz, auch die Nase wurde schöner 91/100.

Das ist ein großer Kalifornier aus den 80ern, meinte der Gregor beim nächsten Wein. Der wirkte noch so erstaunlich jung mit intakter, brillianter, rubinroter Farbe, mit enormer Kraft und wunderschöner Frucht, sehr mineralisch mit der Mouton-typischen Bleistiftnase, feine Minze, alter Ledersattel, enorm druckvoll am Gaumen mit deutlicher, tragender Säure, absoluter Traumstoff 96/100. Lange Jahre habe ich nach einer Flasche 1950 Mouton Rothschild gesucht. Doch alle Flaschen, die ich auf Auktionen oder bei Ebay entdeckte, zeigten mit ihrem miserablen Füllstand an, dass sie wohl eine Vorbesitzerliste hatten, für die sich jeder Gebrauchtwagen schämen würde. Wanderpokale, Trophäen, Schaustücke, Kaminsimsverzierer nein danke! Da habe ich lieber vor einiger Zeit bei dieser perfekten, wohl nie bewegten, halben Flasche zugegriffen. Womit wir eine schlüssige Antwort auf die Frage hätten, in welchem Format Weine am besten reifen, nämlich in dem, das in einem perfekten Keller langfristig in Ruhe gelassen wird.

Umstritten ist 1986 Margaux. Bei Parker wird er hoch bewertet, mein Freund René Gabriel mag ihn nicht. Ich habe bisher eigentlich nur gute Erfahrungen mit diesem immer noch viel zu jungen Wein gemacht, der für mich eindeutig auf dem Weg zur Legende ist. Auch aus dieser Halben hier war das wieder ein gewaltiges, noch extrem junges Konzentrat mit Mörderfarbe. Deutlich jünger wirkend und sich immer noch gegen das Trinken wehrend, aber mit irrem Tiefgang und enormem Druck am Gaumen, der große Margaux, diese unnachahmliche Eisenfaust im Samthandschuh deutlich spürbar 96+/100. 10 Jahre weitere Wartezeit sind da wohl noch angesagt. Bis dahin vernichte ich dann meine Bestände des 1986 l Arrosée. Da war pure Freude im Glas, fruchtig, offen, samtig, floral, frisch zerdrückte Minze und etwas Eukalyptus, wurde mit der Zeit wärmer, schokoladiger, würziger und sehr lang 94/100. 1989 war das einer der Stars der 86er Arrivage-Proben. Würde ich gerne noch mal für die damaligen € 9 in der Halben nachkaufen.

Schon mal "Schloss Obergeilstein" getrunken? So haben wir spontan den 1990 Latour getauft. Was für eine Grante! Vorne ein Spaßwein par Excellence mit üppig-schokoladiger Nase, schon ins Exotische gehender Aromatik, Latour in völlig untypischer, extrem hedonistischer Form. Und trotzdem sollte man diesen Wein und sein Alterungspotential nicht unterschätzen. Da sind hintendran eine gewaltige Struktur und ein deutliches Tanningerüst. Ein Latour, der mit den Jahren und Jahrzehnten noch mal etwas an Komplexität und Tiefgang zulegen könnte. Wenn gleichzeitig der Spaß erhalten bliebe, stände einer perfekten Bewertung nichts im Wege 99/100. Latour-Puristen mögen angesichts meiner euphorischen Bewertung( mehrfach habe ich diesem Wein auch schon 100/100 gegeben) die Haare zu Berge stehen. Da hilft nur Eines. Mir alle Flaschen schicken Ich schicke dann gerne etwas Ernstes ohne Spaß zurück.

Sehr unterschiedliche Erfahrungen habe ich bisher mit 1990 l Evangile gemacht. Gut die Hälfte meiner Flaschen war enttäuschend, die andere Hälfte großartig. Zu letzter Kategorie gehörte die Halbe dieses Abends, ein immer noch jugendlicher Vollblut-Pomerol mit Kaffee, Schokolade und viel Schmelz, elegant und druckvoll am Gaumen mit burgundischer Fülle, eine meiner bisher besten Flaschen 97/100. In Topform zeigte sich auch 1990 Grand Puy Lacoste, zupackend und elegant zugleich mit einer Traumnase und endlosem Abgang 96/100. Das wird wohl der legitime Nachfolger des 82ers. Mit offener, süßer, würziger Frucht wusste als letzter Roter auch der 1989 Cos d Estournel zu überzeugen, der lange zu Unrecht im Schatten des 90 Cos stand, immer noch sehr jung mit deutlichem Tanningerüst 94/100.

Das tiefe Goldgelb des 1991 Freemark Abbey Johannisberg Edelwein Gold erinnerte an einen reifen Sauternes, die Aromatik auch. Ein Traum die Nase, eine prächtige Patisserie-Mischung und ein hocharomatischer Ausflug durch die schönsten Süßigkeiten dieser Welt, dazu die grandiose Fülle eines Sauternes, süß, karamellig, aber auch mit einer tollen Säure, die eher den Riesling zeigte, dabei überhaupt nicht klebrig, sondern eher luftig und elegant 96/100. Ein grandioses Süßweinerlebnis bescherte diese, vor 15 Jahren in Atlanta erworbene und seither im Keller vergessene Flasche. Deutlich jünger, nicht nur in der Farbe, wirkte im anderen Glas der 1990 Haardter Herzog Riesling Eiswein. Ein gewaltiges, superdichtes Konzentrat mit irrer Säure und intensiver, würziger Süße, gemacht für die Ewigkeit 97/100.

Und hier geht es zu Große Weine in kleinen Flaschen I vom letzten Jahr. (wt 09/2010)