Reife trockene Rieslinge aus Deutschland 1983-1990

Nein, so richtig ungetrübte Freude bereitete das nicht, was Uwe Bende uns hier im Dado kredenzte. Es war mehr so eine Art Arbeitsprobe, die zeigte, wie schwer sich viele deutsche Winzer anfangs damit taten, passend zum deutschen Küchenwunder ansprechende, trockene Weißweine zu produzieren.

Deutsche Weine waren früher mal grundsätzlich trocken, denn der Wein vergor im Fass, bis der Zucker aufgebraucht war. Das galt zumindest bis zur Mitte des letzten Jahrhunderts. Edelsüße Weine waren wirklich edel und die absolute Ausnahme. Doch mit den 50ern kam das Wirtschaftswunder und mit ihm schwappte eine gewaltige Welle pappsüßer Weine durchs Land, nicht nur Auslesen oder höhere Kaliber, nein, massig süße Spätlesen und sogar Kabinette. Möglich machten das erlaubte und auch unerlaubte Mittel der Kellertechnik bis hin zum hemmungslosen (unerlaubten) Einsatz von Flüssigzucker. Dazu kamen zu hohe Erntemengen und der Anbau von Massenträgern.
Und warum das alles? Weil das Volk der Biertrinker zur bodenständigen, deutschen Hausmannskost allenfalls Bier trank, aber bestimmt keinen Wein. Der wurde solo getrunken, am Sonntagnachmittag, oder in Kalte Ente und Bowle geschüttet. Und dann passierte in den 70ern etwas Unerhörtes. Immer mehr Deutsche entdeckten gutes Essen. Jenseits der Grenzen, im Elsass gab es das ja schon lange. Und da wurde zur großen Küche großer, trockener Wein getrunken. Da war es kein Wunder, dass Franz Keller Senior, der für seinen Schwarzen Adler in Oberbergen einen der ersten, deutschen Michelinsterne bekam, auch einer der ersten war, der gegen süße Weine wetterte und mit seinem Weingut auf trockene, zur neuen Küche passende Weine setzte.
In den 70ern gewann das deutsche Küchenwunder erst langsam und dann in den 80ern immer schneller an Fahrt. Immer mehr Köche, die bei Pionieren wie Witzigmann oder Jörg Müller in die Schule gegangen waren, eröffneten eigene Restaurants. "Fressblätter" schossen aus dem Boden, Kochschulen kamen in Mode und die Küche wandelte sich rasch, nicht nur in den Restaurants, auch auf den heimischen Tellern. Da fehlten nur die dazu passenden Weine. Nicht, dass es vorher aus deutschen Landen keine trockenen Weine gegeben hätte. Sogar staubtrockene, wirklich saure, die in Supermarktregalen als Diabetikerweine angeboten wurden. Aber das war nicht die Antwort. Die kam in den 80ern aus Österreich. Dort hatte man sehr schnell und nachhaltig aus dem Glycolskandal 1985 gelernt, sich ein sehr strenges Weingesetz zugelegt und konsequent auf trockene Qualitätsweine gesetzt. Ab Ende der 80er rollte aus Österreich eine Welle großartiger, trockener Gewächse, die für meine Weinfreunde und mich lange Zeit das Maß aller Dinge waren und darüber hinaus gegenüber den großen, französischen Weinen auch noch bezahlbar.
Es dauerte etwas länger, bis die deutschen Winzer in größerem Maße den Bogen raus hatten. Klar gab es auch frühzeitig Pioniere. Bernhard Breuer war so einer. Ein asketischer Marathonläufer, der auch bei seinen Weinen keine barocken Strukturen duldete. Ältere Breuer-Weine sind jede Suche wert. Oder Gunter Künstler, der schon mit der zuletzt 2008 getrunkenen, immer noch taufrisch wirkenden 1983 Hochheimer Hölle Auslese trocken gezeigt hatte, was in Deutschland machbar war. Aber das waren Ausnahmen.

Uwe Bende hatte für diesen Abend ein sicher nicht repräsentatives, aber symptomatisches Potpourri trockener Gehversuche deutscher Winzer zusammengestellt, durch das wir uns jetzt durchkämpfen durften.

Eine tiefe, reife Farbe hatte 1989 Monzinger Frühlingsplätzchen Spätlese trocken von Emrich-Schönleber, in der Nase Orangenzesten, am Gaumen gute Säure, aber auch oxidative Bitternoten, furztrocken WT 84. Heller in der Farbe und insgesamt etwas frischer und immer noch gut trinkbar, wenn auch etwas flach und freudlos 1983 Monzinger Frühlingsplätzchen Spätlese trocken von Emrich-Schönleber WT85. Eine güldene Farbe hatte die 1985 Rupertsburger Hoheburg Riesling Spätlese trocken von Bürklin-Wolf. Roch wie Orangensaft mit Petrolschorle, auch am Gaumen sehr gewöhnungsbedürftig und gezehrt WT80. Ein Fels in der Brandung die 1985 Graacher Himmelreich Riesling Auslese trocken von Dr. Pauly-Bergweiler. Helle, brilliante Farbe, einfach geile, mineralische Nase, burgundisch wirkend, am Gaumen eine irre, alles zusammenziehende Säure, hohe Mineralität, frische Grapefruit, ein bestechender, unsterblicher Wein, der allerdings polarisieren dürfte. Bei mir gab es für diesen einmaligen Auftritt WT93, bei Leuten mit Säureintoleranz allenfalls Angstschweiß auf der Stirn. Sehr gut gefallen hat mir auch der 1990 Forster Stift Riesling Kabinett trocken vom Kath. Pfarrweingut Lucashof. Frische Frucht mit einem Hauch Petrol in der Nase und am Gaumen, ein voll intakter, vitaler und immer noch jugendlicher Wein mit hohem Genussfaktor WT88.

Voll intakt auch noch der 1990 Dorsheimer Goldloch Riesling QbA trocken vom Schlossgut Diel, geschmacklich aber eher ein harmloser Säuerling WT81. Korkig leider das 1990 Martinsthaler Rödchen Kabinett trocken von Toni Jost. Auch zum 1988 Deidesheimer Kieselberg Riesling Kabinett trocken von Georg Sieben Erben viel mir nur der Begriff leichter, harmloser, säuerlicher Orangencocktail ein WT80. Ein echter Lichtblick dann die 1988 Westhofener Morstein Riesling Spätlese trocken vom Weingut Gunter Rauh. Herrliche Nase mit Lychees und Hollunder, immer noch so frisch, sehr ausgewogen, hohe Mineralität und für nur 11,6% Alkohol erstaunlich nachhaltig, noch lange nicht am Ende WT91.

Noch frisch, sehr balanciert und gut trinkbar, aber ohne wirkliche Höhepunkte die 1990 Niedertraiser Steinberg Riesling Spätlese trocken vom Staatsweingut Niederhausen Schloßböckelheim WT87. Vom gleichen Erzeuger die 1990 Traiser Bastei Riesling Spätlese trocken war nicht nur trocken, sondern furztrocken und dazu sehr säurelastig, nur was für Gaumen-Masochisten WT80. Was beim 1990 Rauenthaler Baiken Riesling Spätlese trocken vom Staatsweingut Eltville die fruchtige Nase verspricht, kann der langweilige, trockene, sehr säurebetonte Gaumen nicht halten WT 80. Die 1990 Niersteiner Hipping Riesling Spätlese trocken von Georg Albrecht Schneider war gut trinkbar mit Frucht, Fülle, guter Mineralität und feiner Süße WT86.

Zwischendurch schob Uwe mal einen Österreicher ein. Der 1992 Riesling Hochrain Smaragd von Hirtzberger, obwohl nicht die Toplage des Gutes, war würzig, fruchtig, frisch, voll da und sehr nachhaltig mit guter Länge, ohne spürbares Alter WT92.

Korkig leider die 1990 Ungsteiner Weilberg Riesling Spätlese trocken von Fuhrmann Eymael. Und dann kam mit der 1990 Nackenheimer Rothenberg Riesling Spätlese trocken von Gunderloch endlich mal wieder ein richtig guter, immer noch sehr vitaler Stoff ins Glas mit brillianter, junger Farbe, mit wunderbarer, von frischer Ananas geprägter Frucht, mit hoher Mineralität, Länge und überzeugender Struktur WT91. Beim 1990 Monzinger Frühlingsplätzchen Riesling Spätlese trocken von Emrich-Schönleber dachte ich nur: Danke, dass Ihr dazu gelernt habt, liebe Schönlebers. Das war mit sehr reifer Farbe die flachere Version von 83 und 89 WT80. Nachdenklich wurde ich bei der 1990 Wallufer Walkenberg Riesling Spätlese trocken von J.B. Becker. Die wirkte so freudlos und daneben. Diesen Eindruck hatte ich 2011 in der Braui bei meinem Freund Werni Tobler auch. Nur haben wir diesen güldenen, sehr reif scheinenden Wein dekantiert. Der legte dann dermaßen zu, dass am Ende WT94 herauskamen. Ein kleiner Unterschied zu den WT80 für den kurzen Vorbeiflug in dieser Mammutprobe.

Luft holen war nicht. Uwe füllte die Trinkpause mit einer 2009 Kallstädter Saumagen Auslese trocken von Köhler Ruprecht. Viel zu jung zwar, aber ein beeindruckender, dichter, kräftiger Charakterstoff, der langsam anfängt sich zu öffnen und eine große Zukunft haben dürfte WT92+.

Damit waren wir bei der 1989 Westhofener Morstein Riesling Spätlese trocken von Wittmann, die dort noch der Vater gemacht hat. Kein Brummer wie heute, sehr schlank mit pikanter Frucht, viel Hollunder, aber ein sehr feiner, finessiger Wein WT89. Deutlich reifer, nicht nur in der Farbe, die 1990 Westhofener Morstein Riesling Spätlese trocken von Wittmann, die zwar eine schöne Fülle zeigte, aber auch schon deutlich oxidative Noten WT84. Ein großer, kompletter, immer noch so junger Wein war die 1990 Niersteiner Brudersberg Riesling Spätlese trocken von Heyl zu Herrnsheim. Kraft, Fülle, Frucht, feine Süße, Mineralität und schöne Länge, da passte alles zusammen WT93. Schon sehr weit dagegen die 1990 Niersteiner Ölberg Riesling Spätlese trocken von Heyl zu Herrnsheim mit schöner Nase, aber einem doch etwas gezehrten Gaumen WT88.

Und dann kam als Höhepunkt des Abends ein Flight mit vier wirklich großen, trockenen Rieslingen. Die reife 1990 Erbacher Marcobrunn Riesling Auslese trocken von Langwerth von Simmern überzeugte mit guter Frucht, Mineralität, Fülle und Kraft WT92. Erstaunlich die immer noch so jung wirkende, schlanke, rassige 1990 Eitelsbacher Karthäuserhofberg Riesling Auslese trocken von Tyrell. Die frische Stachelbeernase eines Sauvignon Blanc, intensive Schiefermineralität, absolut stimmig und finessig, ein großer Wein, der immer noch gut als Pirat in eine Probe moderner, Großer Gewächse passen würde WT94. Und es kam noch besser. Die 1990 Wallufer Walkenberg Riesling Auslese trocken von J.B. Becker hatte eine tiefe, schon leicht güldene, aber immer noch brilliante und klare Farbe. In der sehr vielschichtigen Nase Trockenfrüchte und eine generöse, karamellige Süße, am Gaumen eine geradezu monumentale Struktur mit guter Säure und gewaltiger Länge, aber auch feiner Schmelz, dabei immer noch so frisch, ein absolut stimmiger Wein, der nach Karaffe und großen Gläsern schreit (in meinem mundgeblasenen Gabrielglas fühlte er sich sehr wohl) und mit Luft und Zeit enorm zulegt WT95. Und selbst da ging tatsächlich noch was drüber, die ultrarare 1990 Kallstadter Saumagen Riesling Auslese trocken R von Koehler-Ruprecht. Die wirkte burgundisch im besten Sinne mit enorm kalkiger Mineralität, in der sinnlichen Nase florale Noten, am Gaumen trotz enormen aromatischen Drucks erstaunlich fein und elegant mit gewaltiger Länge WT96. Das war Weltklasse.

Unerklärlich war mir danach, warum wir noch diesen abartigen, letzten Flight vorgesetzt bekamen. Die 1990 Wehlener Sonnenuhr Riesling Spätlese trocken von Wegeler-Deinhard roch wie abgestandene, alte Kohlsuppe und war untrinkbar. Deutlich besser und noch trinkbar, wenn auch nicht unbedingt ein Highlight die 1990 Forster Ungeheuer Riesling Spätlese trocken von Wegeler-Deinhard mit einer animierenden, frischen Hollundernase. Nur am Gaumen war dieser Wein absolut flach und nichtssagend WT78. Meine einzige Notiz zur 1990 Freinsheimer Ochselkopf Riesling Auslese trocken weißes Etikett vom Weingut Kaßner-Simon war "Pfui Teufel!". Der gleiche Wein als 1990 Freinsheimer Ochselkopf Riesling Auslese trocken, aber schwarzes Etikett mit immerhin für die damalige Zeit satten 14% (13,5% beim weißen Etikett) hatte eine dichte Farbe und eine süße Toffeenase, war aber ebenfalls am Gaumen völlig daneben.

Oder hatte Uwe Bende diesen letzten Flight nur gebracht, damit einer seiner Lieblingsweine als (fast) Abschluss besonders brillieren konnte? Großes Kino war das 2007 Pettenthal GG von Kühling-Gillot aus der Magnum. Klar hatte dieser Wein die klassische 7er Opulenz und wirkte insgesamt recht reif und weit. Aber da war auch für 2007 eine erstaunlich gute Struktur. Ein extrem mineralischer Wein mit feiner Extraktsüße und toller Länge, der zu den langlebigeren 2007ern gehören sollte WT95.

Gerüchten zufolge hören Uwe Bendes Proben erst auf, wenn niemand mehr gerade am Tisch sitzen kann, ohne sich festzuhalten. Wohl um da nachzuhelfen, bekamen wir noch den raren 2009 Guado de Gemoli ins Glas, eine Cuvée aus 80% Cabernet Sauvignon und 20% Merlot von einem neuen Weingut aus der Maremma. Dieser 15%er hatte eine sehr opulente, süße Nase mit Kirschlikör pur und Marzipan. Am Gaumen wirkte dieses ziemlich fette, konzentrierte Monster nicht nur zu alkoholisch, sondern auch korpulent und overdone, Eleganz und Finesse Fehlanzeige. Auf unzweifelhaft hohem Niveau war das für mich eher eine Art Karikatur von Wein. Monica Larner, Parkers neue Italien-Verkosterin, hat diesen Wein kürzlich für ihren alten Auftraggeber, das Wine Enthusiast Magazine, noch mit 100/100 bewertet. Ob die junge Dame von der geschmacklichen Ausrichtung her der neue Jay Miller von Italien wird. Ich hoffe nicht. Über Geschmack lässt sich vortrefflich streiten, aber ich täte mich schwer, einem solchen Wein, der einfach von allem zuviel hat, mehr als WT93 zu geben.

Kommen wir noch mal zurück zum Thema Riesling. Während ich draußen im Garten diese Zeilen bei trotz 21 Uhr immer noch fast 30 Grad schreibe, habe ich einen 1981 Batterieberg Riesling Auslese trocken von Immich-Batterieberg im Glas, der absolut altersfrei mit guter Frucht, feiner Schiefermineralität und erstaunlicher Struktur brilliert WT90. Das müssen die modernen GG s, wenn sie überhaupt dafür gemacht sind, erstmal hinkriegen. Natürlich wussten die besten der deutschen Winzer schon in den80ern, wie man große, trockene Rieslinge macht. Das hat auch Uwe Bendes Probe sehr deutlich gezeigt. Nur ist heute die Spitze deutlich breiter und natürlich auch die Akzeptanz trockener Riesling. Eher sind wir heute wieder soweit, dass eine Lanze für die edelsüßen deutschen Rieslinge gebrochen werden muss. Auch dazu ein Beispiel, wieder von Immich-Batterieberg. Vorgestern hatte ich eine 1991 Batterieberg Auslese bestes Fass im Glas, schon leicht ins güldene gehende, tiefe aber brillante Farbe, Orangenzesten, Trockenfrüchte, unglaubliche Frische, feine Schiefermineralität, die Süße praktisch nicht spürbar. Harmonisch trocken wirkte dieser große Wein mit atemberaubender Aromatik und Fülle, gewaltiger Komplexität und so unglaublich balanciert und stimmig, das waren locker WT94. Vom edelsüßen war bei diesem faszinierenden Riesling nach über 20 Jahren nur noch das "edel" übriggeblieben, und das in sehr beeindruckender Form. Riesling als Königin der Trauben braucht kein Barrique und auch keine hohen Alkoholgrade als Geschmacksträger. In den Händen sorgfältig arbeitender Winzer entstehen daraus trocken wie edelsüß herausragende Gewächse.