Und noch mehr Raritäten

Der September neigte sich langsam seinem Ende zu, doch der Sommer schien nicht weichen zu wollen. Begrüßt wurden wir bei hochsommerlichen Temperaturen mit einem 2005 Oberhäuser Leistenberg Kabinett von Dönnhoff. Mit sympathischen 9 % Alkohol kam da ein sehr frischer, mineralischer, nicht zu süßer Tropfen ins Glas, sehr aromatisch und gut balanciert. Für einen Kabinett erstaunliche Fülle 88/100.
Wie vergänglich hohe Bewertungen sind, zeigte dann gleich der nächste Wein, die seinerzeit hochgelobte 1990 Traiser Bastei Auslese trocken von Dr. Crusius. 16 Jahre sind wohl doch (noch) für einen trockenen, deutschen Riesling zuviel. Die Nase erinnerte an eine 40 Jahre alte, gezehrte Auslese, am Gaumen war der Wein hin, den konnte man nur noch wegschütten.
An solche Wechselbäder bin ich bei unserem Gastgeber gewöhnt. Der denkt wochenlang über eine solche Probe nach und schmeißt dann während der Probe selbst wieder alles über den Haufen. Dabei liebt er den spontanen Wechsel von jung zu alt und umgekehrt genauso wie von grandios zu grausam. Wähnt man sich bei manchen Weinen im Paradies, so wird man gleich wieder auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt.
Plötzlich stand da von Künstler die 2002 Hochheimer Hölle Auslese trocken Goldkapsel in der Doppelmagnum vor uns. Undekantiert aus eigentlich zu kleinen Gläsern reinster, vinologischer Kindermord. Ich habe diesen Wein in diesem Sommer mehrfach bei Jörg Müller getrunken. Hier konnte man jetzt nur ahnen, was aus diesem gewaltigen, druckvollen Geschoss mal werden würde. Wir kehrten im Laufe des Abends noch mehrfach zu dieser DM zurück. Da offenbarte sich die Hölle dann scheibchenweise etwas mehr.
Jung, sehr jung, ging es weiter. Auch beim 2005 Norheimer Dellchen von Dönnhoff kann man nur ahnen, was daraus in ein paar Jahren entstehen wird. Ein faszinierender Wein, feiner und eleganter als die Hermannshöhle, aber sehr lang und nachhaltig, Finesse pur, pikante Frucht, aber auch exotische Töne, Passionsfrucht 92+/100. Ein Irrsinnsteil dann die 2005 Hermannshöhle Großes Gewächs von Dönnhoff. Wahnsinnssäure, hoher Extrakt, intensive Mineralität und gigantisches Potential 92++/100. Ich werde im eigenen Keller versuchen, da für 5 Jahre einen Bogen drum zu machen. Da entsteht ein neuer Maßstab für trockenen, deutschen Riesling, doch ein paar Jahre Reife sind dringend vonnöten.
Mein Gaumen hatte sich von diesem jugendlichen Schock noch kaum erholt, da roch es vor mir nach Gummi und alten Autoreifen. Der Gastgeber, bekennender Bernd Philippi Fan, hatte eine 1996 Kallstädter Saumagen Riesling Auslese trocken "R" von Koehler-Rupprecht aufgemacht. Bei diesem furztrockenen Wein schieden sich am Tisch die Geister. Einige fanden ihn schlichtweg gigantisch und sogar noch viel zu jung. Ich gehörte eher zu der Fraktion, die da weniger mit anfangen konnte. Ich fand den Wein eher etwas schwierig, Petrol ohne Ende, viel Kraft zwar, aber wenig Schmelz und Finesse 87/100. Wie gut, dass Geschmäcker verschieden sind.

Und schon fuhren wir mit der Weinachterbahn in Urzeiten zurück. Vor uns stand ein cognacfarbener Wein mit einer faszinierenden Crêpe Suzette Nase, Orange, Zitrusaromen, Grand Marnier, dann kommt mit der Zeit vermehrt Rosenduft und Traminer-Affinität, am Gaumen ist dieser zweifelsohne alles andere als junge Wein mit weitgehend aufgezehrter Süße eher halbtrocken, zeigt aber immer noch eine erstaunliche Frische und Leichtigkeit - 96/100. Es war eine 1900 Niersteiner Fläschenhahl Trockenbeerenauslese vom Weingut Hermannshof, die am Tisch für deutlich jünger gehalten wurde. Nicht mehr genau identifizieren ließ sich der nächste Wein. 1921 Hochheimer TBA, mehr Angaben gab es nicht zu diesem Giganten, genaue Lage und Winzer blieben im Dunkeln. Güldene, aber immer noch brilliante Farbe, wunderbare Süße, balanciert durch gute Säure, bittere Orangenmarmelade, irre Länge am Gaumen 98/100. Ein unsterblicher Gigant aus dem besten, deutschen Süßweinjahr des letzten Jahrhunderts.
Vor den Rotweinen schob der Gastgeber jetzt zur Erfrischung des Gaumens noch einen trockenen Weißwein ein. Ich konnte es kaum glauben. Das sollte ein 10 Jahre alter Riesling aus Baden sein? So eine erstaunliche, traubige Frische zeigte der 1996 Ihringer Winklerberg Riesling Spätlese trocken vom Weingut Dr. Heger noch. Dazu die hohe Mineralität der Vulkangesteinsböden und eine immer noch knackige Säure 90/100. Sehr zufrieden zeigte sich auch der in unserer Runde anwesende Joachim Heger. Der sehr sympathische Winzer, ein leicht barockes Abbild schierer Lebensfreude, hatte wohl selbst nicht damit gerechnet, dass sich dieser Wein nach 10 Jahren noch so frisch präsentieren würde.
Mit einer Magnum starteten wir ins Rotweinland. 1953 Gruaud Larose präsentierte sich voll auf dem Punkt. Ein faszinierender Wein mit einer traumhaften, süßen Nase, am Gaumen sehr aromatisch und druckvoll mit guter Säure 95/100. Gut gelagerte Flaschen wie diese werden noch eine ganze Weile Freude machen.
Keine Freude kam dann leider bei einem 1899 d Issan auf. Der war 1999 rekorked worden, was auf dem Korken deutlich zu erkennen war. Mit reichlich Schwefel hat man damals wohl versucht, einen morbiden Weingreis wieder mit neuem Leben zu versehen. Vergeblich, denn außer einem deutlichen Essigstich und massivem Schwefelton hatte der Wein nichts mehr zu bieten. Er wurde rasch medizinal mit Penicillin ohne Ende, zerfiel dann völlig und wurde untrinkbar. Klar ist, so ein Wein hätte nie neu verkorkt werden dürfen. Inzwischen lernen das zumindest die namhaften Bordeaux Chateaus und legen sehr strenge Maßstäbe an. Die alte, häufiger geübte Unsitte, aus 6 halbvollen Flaschen 3 volle, neuverkorkte zu machen, dürfte damit hoffentlich aussterben. Ich für meinen Teil mache um neuverkorkte Flaschen soweit irgend möglich einen großen Bogen.
Als Zwischenspiel bekamen wir dann ein Lehrstück für die schöne, neue Weinwelt. Einer der Teilnehmer der Probe hatte aus Kanada ein kleines Päckchen Bisonschinken und eine Flasche 2001 Stratus der Stratus Winery aus Ontario mitgebracht. Wir waren uns schnell einig, dass er besser ein größeres Päckchen Bisonschinken mitgebracht hätte. Der Stratus, eine Cuvée aus mindestens 6 Rebsorten inkl. Gamay(!) und Syrah, war ein etwas künstlich wirkender, diffus süßlicher Wein mit Nougat, Kokosraspeln und Kaffee. Leider aber auch mit unreifen, grünen Noten und mit viel Säure am Gaumen. Die anwesenden Winzer vermuteten sofort, dass bei diesem "Kunst"werk wohl die Maschine mit im Spiel war 80/100.
Als nächstes stand vor uns ein durchaus noch vitaler Weingreis aus Bordeaux in einer damals nicht unbedingt unüblichen Burgunderflasche. Nach Aussagen unseres Gastgebers stammte der Wein, der weder durch irgendwelche Etikettreste noch durch den Korken zu identifizieren war, aus dem Jahre 1826 und war ein Pomerol. So soll es im Ursprungskeller auf einer Schiefertafel vermerkt gewesen sein. Das war zwar früher nicht unüblich, ich habe da aber trotzdem so meine Zweifel. 1826 zählte nicht gerade zu den besseren Weinjahren des vorletzten Jahrhunderts. Mit relativ großer Wahrscheinlichkeit dürfte es sich aber um einen Wein aus der Vor-Reblauszeit gehandelt haben. Etwas flüchtige Säure zwar, aber auch feine Süße, viel Kaffee, Himbeere und der für solche Weine typische Erdbeerton. Filigran, aber nicht zerbrechlich und mit dieser unnachahmlichen Eleganz, wie sie gut erhaltene Monumente dieser längst vergangenen Epoche bieten. Also, egal was es war, es stammte aus dem 19. Jahrhundert und war verdammt gut. Das wurde uns vor allem klar, als wir den nächsten Wein im Glas hatten. Das war 1959 Mouton Rothschild in sehr gutem Zustand, also kein Leichtgewicht. Der hatte eine kräftige Farbe mit wenig Alterstönen und wirkte wieder verdammt jung und konzentriert. Entwickelte sich im Glas, da kamen Minze, Bleistift, auch etwas Eukalyptus, immer noch präsente Tannine, sehr lang am Gaumen 97/100. Da ist noch Musik für etliche Jahrzehnte drin. Angesichts der inzwischen aufgerufenen Preise dürfte zwar die Frage, ob 61 oder 59 Mouton der größere Jahrgang ist, rein akademisch sein. Ich würde im Zweifelsfall trotzdem dem 59er den Vorzug geben.
Erwartungsvoll richteten sich beim nächsten Wein die Augen des Gastgebers auf mich. War da doch einer meiner Lieblingsweine drin, 1970 Latour. Zweifelsohne ein großer, dichter Wein, dem aber die Süße eines großen Jahrgangs und der Spaßfaktor fehlten. Für mich als 70 Latour kaum zu erkennen. Umso erstaunlicher des Rätsels Lösung. Die Flasche war von unserem Gastgeber erst kürzlich auf einer Auktion aus demselben Restaurantkeller erworben worden, wie die enttäuschende Flasche, die ich im Juli diesen Jahres mit meinen Schwezier Freunden getrunken habe(siehe WeinMomente Juli 2006).
Grandios danach ein 1928 Palmer. Nur an der Farbe erkannte man mit deutlichem Orangenrand das mögliche Alter dieses Giganten. Der wirkte immer noch so jung mit spürbaren Tanninen. Ähnlich 28 Latour hat dieser Wein fast ein halbes Jahrhundert für die Trinkreife gebraucht, der Alptraum eines jeden Subskriptionskäufers. Jetzt zeigte er die unglaubliche Eleganz großer Palmers, dem 61er vielleicht nicht ganz ebenbürtig, aber nicht unähnlich. Feine Zedernholznote, Trüffel, schöne Süße, sehr, sehr lang am Gaumen. So sehr ich die harmonische Runde schätzte, in der wir hier zusammensaßen, diesen Wein hätte ich lieber zu dritt getrunken 98/100.
Und dann kam schon das nächste Monument ins Glas, 1934 Haut Brion. Erstaunlich dichte Farbe, ebenfalls jünger wirkend. Doch hier zeigte die reife Nase mit leichten, oxidativen Tönen das richtige Alter deutlich an. Ein feiner Wein mit schöner Süße, mit Teer und etwas Cigarbox und mit der Finesse und Eleganz, die Haut Brion in diesem Jahrgang zeigt.. Den 34er Haut Brion habe ich schon riesengroß und auch sehr müde getrunken. In dieser Flasche lag er irgendwo dazwischen und wirkte schon leicht auf dem Abstieg 93/100.
Gut gefiel mir auch der nachfolgende 1961 Léoville Poyferré in einer französischen Händlerabfüllung von E. Eyde. Reif mit feiner Süße und sublimen Eleganz. Baute sehr schön im Glas aus und war bis auf einen leichten, korkähnlichen Misston in der Nase sehr überzeugend 92/100.
Sehr elegant und filigran mit deutlicher Kaffeenote dann der 1893 Léoville Poyferré in einer R & U Abfüllung. Klar nagte an dem schon etwas der Zahn der Zeit, was sich vor allem in einer leicht astringierenden Säure zeigte, doch hielt er sich für einen über 110 Jahre alten Wein beachtlich im Glas 90/100.

Einen deutlichen Braunton hatte 1906 Ducru Beaucaillou aus einem Jahrgang, der in Bordeaux wohl der beste zwischen 1901 und 1919 war. Sehr robuste Weine wurden in diesem heißen Jahr erzeugt. So hatte sich auch dieser Ducru erstaunlich gut gehalten und war immer noch mit Genuss zu trinken. An karamellisierte Wiesenchampignons musste ich spontan denken. Habe ich zwar so noch nie gegessen, aber von der Nase her war das spannend. Dazu viel Kaffeetöne 90/100.
Erstaunlich frisch für das Alter auch wieder 1900 Beaune in einer nicht näher identifizierbaren Händlerabfüllung. Unser generöser Gastgeber muss davon größere Bestände gekauft haben, denn ich hatte bereits mehrfach dieses große Vergnügen. Wissen muss man, dass 1900 im Burgund im Gegensatz zu Bordeaux ein eher schwächeres Jahr war. Aber im Burgund wusste man sich schon immer zu helfen. Da gab es immer noch Bestände aus einem besseren Vorgängerjahr, die Nähe zur Rhone, einen lieben Verwandten namens Chaptal. Und trotzdem wird gerade bei so einem Wein, der für Etikettentrinker keinerlei Wert hat, niemand versucht haben, künstlich einen Jahrhundertwein zu erzeugen. Da war wohl auch eine Menge Glück und Zufall mit im Spiel. Diese Flasche hier war auf der einen Seite die frischeste, auf der anderen Seite aber nicht so nachhaltig wie die anderen. Kirsche, Schattenmorelle, etwas Kaffee, kräftige Säure. Auf das Alter wäre ich nie gekommen 92/100. Es ist immer wieder erstaunlich, wie unterschiedlich sich Weine über längere Zeit entwickeln. Nur so ist es auch zu erklären, dass manchmal scheinbar kleine Weine für große Überraschungen sorgen und namhafte Gewächse aus großen Jahren für herbe Enttäuschungen. Dafür hatten wir anschließend gleich noch ein Beispiel im Glas. Immer noch sehr gut zu trinken war trotz deutlichen Alters ein namenloser 1919 Margaux (nicht das Chateau Margaux) in einer Händlerabfüllung, reif, aber nicht morbide, immer noch mit erstaunlicher Frucht und einfach rund und samtig 90/100. Eine sehr kräftige Farbe zeigte auch der letzte Rotwein, ein 1908 La Mission Haut Brion. Den hatte die massive, immer noch deutlich spürbare Säure am Leben erhalten und die harschen Tannine, die diesen Wein sicher in der Jugend ebenso unattraktiv gemacht hatten, wie die meisten anderen 08er Bordeaux auch. Jetzt präsentierte er sich zwar etwas ruppig und rustikal, wie eine etwas kleinere, ältere Version des 75ers, aber durchaus mit viel Trinkgenuss und mit einer für einen fast hundertjährigen Wein erstaunlichen Vitalität 91/100. Sollten Sie im übernächsten Jahr Ihren 100sten feiern(oder den Ihrer Oma), mit einer gut gelagerten Flasche 1908 La Mission liegen Sie mit Sicherheit richtig.
Unser generöser Gastgeber rückte uns danach noch mit einigen jüngeren Rieslingen auf die Pelle, doch viel mehr trinken und schreiben wollte ich nicht mehr. Mir ging es gut, ich war im siebten Rotweinhimmel und brauchte nur noch das dazugehörige Bett.
In letzterem saß ich dann am nächsten Morgen und blätterte in meinen Notizen. Das war schon ein verdammt strammes Programm, das wir da hinter uns gebracht hatten. Mir ging es trotzdem prächtig und ich hatte sehr gut geschlafen. So, wie wir Ehrfurcht vor den älteren Weinen hatten, gingen diese auch sehr gnädig mit uns um. Nicht nur haben die älteren Jahrgänge durchweg deutlich niedrigeren Alkohol gehabt als die heutigen Boliden. Über die Jahrzehnte haben sich auch Schwefel, Histamine und andere Kater-verdächtige Stoffe abgebaut. Sehr gut bekömmlich sind ältere Weine, was ich von jüngeren Granaten nicht unbedingt behaupten kann. So wird denn Wilhelm Busch, als er sein "Rotwein ist für alte Knaben, eine von den besten Gaben" schrieb, sicher einen gut gereiften Bordeaux vor sich im Glas gehabt haben.