Engadiner (W)Eindrücke

In feinstem, winterlichen Kleid zeigte sich das Engadin über die längst vergangenen Weihnachtstage. Massig Neuschnee wie selten hatten das schönste Tal der Alpen in ein prächtiges Wintermärchen verwandelt. Beste Voraussetzung für schöne Weihnachtsferien, die uns auf ausgedehnten Wanderungen natürlich wieder zu vinologischen Anziehungspunkten führte. Da haben wir jeweils tief in die Weinkarten geguckt und nach interessanten, bezahlbaren Trouvaillen gesucht. Allerdings sind die Zeiten, wo man auf diesen Karten noch wohlfeile, große Bordeaux fand, längst vorbei. Große Bordeaux gibt es immer noch, aber meist zu utopischen, noch größeren Preisen. So haben wir meist nach bezahlbareren Alternativen gesucht. Und da kam uns ein Vorteil der großen Höhe zugute. Junge, tanninlastige Weine präsentieren sich in 2000 Metern Höhe völlig anders, viel zugänglicher und weicher als auf Meeresniveau. Spektakuläres Beispiel dafür war ein am letzten Abend im Hotel Walther getrunkener 2001 Barolo Campé Vürsü von La Spinetta. Voll auf dem Punkt war dieser Superstoff und locker 95/100 wert. Ein paar Wochen habe ich genau diesen Wein noch mal in Düsseldorf bei Saittavini getrunken, völlig zugenagelt, nur Holz und Tannin.

Das andere Dorf

Wer Engadin hört, denkt an St. Moritz, diesen mondänen Ort, an dem sich auf der Via Maistra die internationalen Luxusboutiquen wie Perlen aufreihen, wo im Winter Russisch zumindest Zweitsprache ist, wo in der Saison der Verkehr eher an Zürich erinnert, als an die Alpen, und wohin der internationale Jetset mit dem eigenen Flugzeug düst. Doch es geht auch gemütlicher, normaler und bezahlbarer in einem der vielen anderen Orte. Ich habe mich vor ein paar Jahren für das deutlich ruhigere Pontresina entschieden. Dort ist mein sehr empfehlenswertes Stammquartier das Hotel Walther, ein in der dritten Generation sehr persönlich und engagiert geführtes Relais & Chateau. 14 Punkte gibt der Gault Millau der Küche des Hauses. Ich schließe mich dem gerne an. Gut gefüllt die umfangreiche Weinkarte, auf der sich trotz viel Masse ohne Klasse eine ganze Reihe Entdeckungen machen lassen. Natürlich haben wir uns ausführlich der Champagner-Auswahl gewidmet. Gab es doch von Weihnachten über Silvester bis zu einem Geburtstag genügend zu feiern. Belle Epoque der Stil des Hotels und insbesondere des grandiosen Speisesaals und der Halle, Belle Epoque die verzierte Flasche und Belle Epoque auch der Inhalt des 1996 Perriet Jouet Belle Epoque, Schiere Lebensfreude, eigentlich mehr Silvester als besinnliche Weihnachten, aber so feierten wir damit eben eher fröhliche Weihnachten mit einem beschwingten, jungen Champagner, in der Nase ein großer Brotkorb verziert mit reichlich frischen Früchten, am Gaumen gute Säure, Frische und noch viel Potential 94/100. Da kam ein anschließend getrunkener 1999 Laurent Perrier nicht mit. Dem fehlten nicht nur die Belle Epoque-Verziehrungen an, sondern auch in der Flasche. Eher etwas schlanker, rustikaler mit grobperligem Mousseux und reifer Birne 91/100. Auch der bei anderer Gelegenheit getrunkene 1998 Perriet Jouet Belle Epoque kam mit dem 96er nicht mit. Wirkte deutlich kompakter mit mehr Säure und weniger Schmelz 90/100. Auf Augenhöhe mit 96 allerdings der etwas reifere, fülligere 1995 Perriet Jouet Belle Epoque, mit dem wir das Neue Jahr begrüßten 94/100.
Aus der Bordeaux-Abteilung gefiel mir besonders ein sinnlicher, erotischer 1998 Lynch Bages, der geradezu mit dem Gaumen schmuste. Pflaumige Frucht, superreife Brombeeren mit guter Extraktsüße, am Gaumen trotz guter Tanninstruktur weich und reif, ein hedonistischer Genusswein, jetzt in tollem Stadium, bei dem sich die Gläser fast von alleine leerten 93/100. Ein parallel getrunkener 1998 Pichon Baron trumpfte mit der dichteren Farbe auf und der etwas ausdrucksstärkeren Nase, kam aber am Gaumen und vor allem im Abgang überhaupt nicht mit. Legt vielleicht in den nächsten Jahren noch etwas zu 90/100. Sehr fein, fruchtig und schmelzig mit dezenter Röstaromatik ein 1999 Phelan Segur. Eine kleinere Version des 90ers und ein jetzt trinkreifer, schöner Gaumenschmeichler 89/100. Wohl noch etwas jung war 2004 Talbot, der zwar elegant wirkte und sich gut trank, aber zumindest im jetzigen Stadium leicht grüne Töne und viel Paprika zeigte 89/100. Und wie in jedem Walther-Jahr bisher habe ich auch wieder 1999 Pontet Canet getrunken, einen kernigen, gut strukturierten Lehrbuch-Pauillac 91/100. Wenig anfangen konnte ich mit einem 2003 La Lagune. Der besaß zwar eine für 2003 erstaunlich gute Struktur, wirkte aber weitgehend fruchtlos und bitter, vielleicht ein Flaschenfehler 87/100.
Unter den zahllosen, italienischen Weine stach 2004 Tignanello hervor. Tiefrote Farbe, süße, schwarzkirschige Frucht, erdig, trüffelig, wunderbare Fülle und Länge 93/100. Aus Sizilien gefiel mir ein 2005 Honoris Causa, eine Cuvée aus Syrah und Nero d Avola von Brugnano. Dichtes Schwarzpurpur, satte Frucht, Maulbeeren, reife Brombeeren und Schwarzkirsche, Minze, rauchig, würzig, mächtig und kräftig. Trotz cremiger Textur spürte man die sizilianische Sonne, nichts für kleine Mädchen, obwohl dieser Kraftbolzen erstaunlich elegant daher kam. Sollte sicher jung getrunken werden 90/100.
Nicht sonderlich anfreunden konnte ich mich in diesem Jahr mit der Schweizer Abteilung. Die Schweizer Weine, die auf der Karte völlig unsinnigerweise keine Jahrgangsangabe hatten, waren inzwischen weitestgehend gegen den zumindest derzeit ziemlich uninspirierenden Jahrgang 2007 ausgetauscht worden.
Geheimtipp bei den Weinen des Walther bleibt der Maitre d Hotel Dino Martelli. Der bewirtschaftet nicht nur ein eigenes, väterliches Weingut im Veltlin und nennt selbst einen großen Keller sein eigen. Er ist auch ein begnadeter Verkoster und hat immer noch die ein oder andere Rarität in der Hinterhand, so an meinem letzten Abend den oben beschriebenen 2001 Barolo Campé Vürsü von La Spinetta.

Formidabel die Weinkarte im Hotel Müller. Hinter diesem bodenständigen Namen und der klassischen Fassade verbirgt sich ein hochmodernes Designer-Hotel mit einem schönen Restaurant und einer sehenswerten Bar. Hierhin verschlug es uns ab und an noch am späteren Abend. Klar, wer sich bei Minus 20 Grad noch nach dem Essen die Füße vertritt, der braucht ein Ziel.
Ein Wein fiel mir hier gleich beim ersten Besuch auf, ein 1989 La Tâche von DRC. Wo findet man solch ein Juwel noch zu vertretbaren Konditionen auf einer Weinkarte? Klar, dieses Einzelstück habe ich sofort reserviert. Als in Thailand, wo ein guter Freund Silvester feierte, bereits auf das Neue Jahr angestoßen wurde, stießen wir hier mit diesem großartigen Burgunder noch mal auf das Alte an. Das war eine andere Welt als all die modernen Out-of-the-bottle Knaller. Ein großer nobler, sehr feiner, eleganter Burgunder, trotz erstaunlich heller, reif wirkender Farbe immer noch ganz am Anfang mit delikater Frucht, viel getrockneten Kräutern und einer immer noch prägnanten Säure, die ihm ein längeres Leben bescheren wird. Enorm vielschichtig und komplex, baute sehr schön im Glas aus 95+/100. Ich habe das Alte Jahr schon deutlich schlechter beendet. Aufgefallen ist mir auch ein 2005 Lagrein Riserva Abtei Muri, ein tiefdunkler, sehr kräftiger, nachhaltiger edel-rustikaler Powerstoff 91/100. Und dann war da natürlich noch mein Lieblingschampagner, ein 1995 Taittinger Comtes de Champagne, ein reifer, cremiger, hocharomatischer Champagnertraum 95/100. Spezialität des Müller ist eine spektakuläre Sammlung alter Whiskys. Eigentlich nicht so sehr mein Fall, aber ich machte einen Selbstversuch mit einem 1954 Glenfarclass Single Malt Whisky. Absolut faszinierende Nase, Storcks Schokoriesen, sehr schokoladig, karamellig, dazu getrocknete Birnen. Den Gaumen muss man mögen, da fehlt mir wohl die Whisky-Erfahrung. Mir war er zu brandig mit einer gewöhnungsbedürftigen Mischung aus Haarwaschmittel und großem Heuschober. 95/100 gebe ich gerne für die faszinierende Nase. Den Rest müssen Experten und Liebhaber bewerten.



Ein wunderbarer Platz ist mittags in Pontresina auch das kleine Außenlokal des Kronenhofes am hauseigenen Curlingplatz. Dort in der herrlichen Sonne sitzen mit weitem Blick ins Rosegtal, dazu ein dampfendes Käsefondue und ein schönes Glas Wein, das hatte was. Das Mischung für das Käsefondue stammt aus der Sennerei in Pontresina und ist dringend zu empfehlen. Die holt jedes Jahr auch mein Freund Horst für seine jährliche Käse-Orgie. Hier im Kronenhof wird sie nicht nur mit Kirschwasser verfeinert, sondern auf Wunsch auch mit Perigord Trüffeln. Klingt dekadent, ist aber nicht so teuer und bringt geschmacklich eine ganze Menge. Dazu tranken wir eine 2002 Graacher Himmelreich Spätlese halbtrocken, die mit ihrer Fülle und Süße schon eher Richtung Auslese ging und voll mit dem Käsefondue mithielt 86/100.

Und dann wäre da noch mein erster brasilianischer Wein. Im Saraz, dem Szene-Lokal Pontresinas, spielte eine brasilianische Band. Passend dazu tranken wir einen 2005 Quinta do Seival. Wunderbare Nase mit Cassis, süßer, dunkler Frucht und viel Käutern, am Gaumen weich, fruchtig, reichhaltig mit guter Textur 88/100.

Sylt im Engadin

Spontanes Sylt-Feeling kam bei mir auf, als ich das El Paradiso betrat. Hatte da jemand die Sansibar 1000km weiter südlich in die Engadiner Berge verpflanzt? Nicht nur Stil und Konzept ähnelten sich. Auch ein guter Teil der Mannschaft hatte im Sommer auf Sylt gearbeitet. Die auch im Sommer(!) geöffnete El Paradiso Hütte liegt mit spektakulärer Sicht auf Bergwelt und Engadiner Seen auf 2181 m Höhe in perfekter Sonnenlage. Dort mittags in gleißender Sonne, eingemummelt in Decken und auf dicken Schaffellen Essen und Trinken zu dürfen, das ist ein einmaliges Erlebnis und schlichtweg der Himmel auf Erden. Da passt der Name Paradies wie die Faust aufs Auge. Vor allem gilt das natürlich für die sogenannte Clubebene, auf der wie beim Sylter Gegenstück ohne rechtzeitige, vorherige Reservierung überhaupt nichts geht. Das im positiven Sinne weinverrückte Wirtepaar Anja und Hans-Jörg Zingg setzt auch in Sachen Wein Maßstäbe. Die sehr umfassende Weinkarte ist klug zusammengestellt, einigermaßen menschlich kalkuliert und hat jede Menge spannender Highlights. Klar, dass wir uns daraus bei unseren zwei Besuchen im Paradies kräftig bedient haben. Mit dem 2005 Chardonnay Unique von Donatsch zum Beispiel. Ein gewaltiges Teil, nussig, kräftig, viel Holz, Vanille, aber auch gute Frucht. Würde ich blind nie in die Schweiz stecken, auch nicht nach Burgund sondern immer nach Kalifornien. Ein Wein, der mit seiner schieren Power sicher polarisiert. Hier oben in der prächtigen Sonne waren wir mit dem Unique voll einverstanden und gaben begeisterte 95/100. Allerdings würde ich davor warnen, diesen und ähnliche Weine im Keller zu vergraben. Da ist einfach das Letzte aus überreifem Traubengut rausgeholt worden. Ich fürchte, dass so ein Unique bei aller Klasse nach einigen Jahren verblüht. Portugal war unsere nächste Wahl. Der 2004 Quinta do Zambujeiro Tinto bot reichlich Cassis, Blaubeere und reife Brombeere in einem faszinierenden, mineralischen Cocktail mit viel Fruchtsüße, etwas Exotik und Kaffee. Ein sehr gut gemachter Vin de Plaisir mit moderner Handschrift und cremiger Textur, dessen mächtige Tannine hier in der Höhe schon etwas Platz für Eleganz ließen 94/100. Unbedingt zugreifen musste ich dann auch beim 2005 Blauburgunder Monolith von Obrecht. Deutlich reifer und zugänglicher als noch vor einem Jahr in Düsseldorf zeigte sich dieser Parade-Pinot mit seiner wunderbaren Frucht und dem feinen Schmelz von seiner besten Seite 94/100.Und klar war uns auch, hier mussten wir noch mal hin.
Der Bär steppte an diesem Tag im Paradies. Die Tage zwischen Weihnachten und Neujahr sind hier nicht anders als an Ostern oder Pfingsten in der Sansibar auf Sylt. Ohne sehr frühzeitige Reservierung läuft da überhaupt nichts. Wir gehörten zu den Glücklichen, die sich rechtzeitig einen der begehrten Tische gesichert hatten. Und so, wie sich das für echte Glückskinder gehört, riss auch zu unserem paradiesischen Lunch der Himmel völlig auf, und die Sonne wärmte uns nicht nur, sie verzauberte auch das tief verschneite Engadin mit seinen zugefrorenen Seen in ihrem gleißenden Licht. Disney könnte das nicht besser. Perfekt machten das Glück auf Erden dann natürlich wieder die passenden Weine in unseren Gläsern. Letztere, also die Glaskultur, waren ebenso topp wie der professionelle Service der charmanten, jungen Damen. Ein sehr eleganter, mineralischer, straff gewirkter, nachhaltiger 2006 Fläscher Chardonnay von Hermann machte den Anfang 92/100. Gefolgt wurde er von einem prächtigen 2005 Pinot Noir Eichholz von Irène Grünenfelder. Den hatte ich noch nie so perfekt im Glas wie hier, wo wir doch in luftiger Höhe dem Himmel so nahe waren. Wunderbare rot- und blaubeerige Frucht, feiner Schmelz, filigran auf der Zunge tänzelnd und doch den Gaumen voll auskleidend, einfach ein Burgundertraum 95/100. Fats Domino mit seinem Klassiker Blueberry Hills kam danach in Form eines sehr fruchtigen, kräftigen 2003 Perwolff von Krutzler ins Glas 93/100. Gelungener Schlussakkord zu einem hervorragenden Kaiserschmarrn dann ein 2005 Gewürztaminer Jeninser Guldistückli von Obrecht. Sehr würzig und mineralisch mit guter Säure und nicht übermäßiger, gut eingebundener Süße war dieses "Goldstück" die perfekte Ergänzung unseres Desserts 93/100.
Die Sonne blieb uns erhalten und verschwand erst pünktlich mit der Rechnung hinter den Bergen und ließ es deutlich kälter werden. Zeit zum Aufbruch. Satt, glücklich und mit dem festen Vorsatz, das Paradies bald wieder zu betreten, machten wir uns auf den Abstieg ins Tal.

Wer sich Appetit aufs Paradies holen möchte, kann das auf der vorbildlichen Website tun, natürlich mit Panorama Webcam und aktueller Weinkarte.

Auch drunten im Tal fühlte ich mich an Sylt erinnert. Dort führt Familie Jöhri das schmucke Talvo. Für mich das perfekte Gegenstück zu Jörg Müller auf Sylt. Auch hier wie bei meinem Freund Jörg eine superbe Küche ohne molekulare Spielereien, die ihre 18 Gault Millau Punkte dreimal wert war. Mit Brigitte Jöhri eine sehr sympathische Chefin, die wie die omnipräsente Barbara Müller auf Sylt alles im Griff hatte, ein sehr herzliches Team junger Damen, denen bei aller Professionalität dankenswerterweise das Steife so mancher Servicebrigade aus Großstadt-Sternetempeln abging und last not least eine formidable Weinkarte. Nur bei den Preisen vieler Weine fühlt man sich ebenso wie bei den teuren Viktualien der Speisekarte dann doch daran erinnert, dass man eben nicht der Oligarch aus Moskau, sondern eher der arme Vetter aus Dingsda ist. 3900 Franken für einen 1982 Chateau Margaux, um nur ein Beispiel zu nennen, sind schon eine Ansage. So suchten wir hier wie auch in anderen Engadiner Karten nach Schweizer Trouvaillen und wurden bestens fündig.
Bei unserem ersten Besuch starteten wir mit einem 2006 Gantenbein Chardonnay. Nicht so fett wie andere Gantenbein-Jahrgänge, aber deutlich feiner und eleganter als der Donatsch vom Vortag, mehr Finesse als Kraft, aber trotzdem erstaunlich nachhaltig und lang am Gaumen 92/100. Nicht nein sagen konnten wir auch bei 2004 Castello Luigi. Der Petrus aus dem Tessin wurde seiner Rolle wieder voll gerecht. Wunderbare, süße, schwarzbeerige Frucht, Bitterschoggi vom Feinsten, viel Schmelz und dezente Süße, elegant, tolle Struktur, sehr lang am Gaumen 94/100. Den in seiner Zugänglichkeit jetzt trinken und den echten Petrus in den Keller legen. Und natürlich hoffen, dass der irgendwann auch mal so dekadent lecker wird. Da waren wir dann inzwischen an diesem frühen Nachmittag bei bester Stimmung schon beim Dessert angelangt, Jöris wirklich großartiger Schokoladenüberraschung. Dazu entschieden wir uns für eine 2005 Gantenbein Riesling Auslese. Dieser feine, hocharomatische, elegante Wein mit seinem wunderbaren Süße-/Säurespiel wirkte mit dem Dessert fast trocken, gewann dadurch aber deutlich an Struktur und Komplexität, habe ich noch nie so gut getrunken, in dieser Kombination kamen da 94/100 ins Glas. Klar war diese Flasche ruck zuck leer. Also musste als endgültiger Abschluss noch ein halbes Fläschchen 2004 Donatsch Pinot Noir Vintage her. Der ideale Weihnachtswein mit der großen, weihnachtlichen Gewürzmischung und einem Ausflug durch die Weihnachtsbäckerei, portig, süß, aber dabei filigran und fein, dazu braucht man kein Dessert, das ist eins 93/100.
Das Talvo hat in der Wintersaison übrigens ganztägig auf. Wer da z.B. nach ausgedehnter Wanderung oder nach dem Skifahren gegen 15 Uhr kommt, dürfte auch spontan selten ein Problem haben, einen Tisch zu bekommen. Wie zufällig landeten wir dreimal nach langen Wanderungen vor diesem gastlichen Schmuckstück. Zumindest dachte das meine Familie. Ich hatte es schon fest geplant. So standen wir also an Silvester nach langer Wanderung wieder mittags vor diesem gastlichen Hause, gerade noch rechtzeitig, bevor hier für den großen Galaabend geschmückt wurde. Mit einem 2000 Dom Perignon stießen wir zunächst noch mal auf das alte Jahr an. Noch jung, dieser Dom Perignon, aber schon so zugänglich, aromatisch und wunderschön zu trinken, mit cremiger Textur, ein perlendes Gedicht 93/100. Auf eine Trouvaille machte uns der Sommelier aufmerksam und wir folgten seinem Rat. Nur 300 Flaschen gab es vom 2006 Petit Arvine Special Selection von Nicolas Zufferey aus dem Wallis. Petit Arvines diverser Winzer habe ich schon häufig getrunken, meist nette, frische, aber nicht sonderlich komplexe Weine. Da war das hier eine völlig andere Liga. Dekantiert und aus großen Burgundergläsern gab dieses fruchtige, perfekt strukturierte Konzentrat dermaßen Gas. Da toppte jeder Schluck den Vorgänger und machte unbändige Lust auf den nächsten. Gleichzeitig stiegen meine Bewertungen immer höher. Bei 96/100 war Schluss der Wein war alle! Klassestoff, um den ich die Besitzer der anderen 299 Flaschen beneide. Zum Dessert folgte dann noch eine feine 2006 Ruster Beerenauslese von Heidi Schröck, süß und cremig, aber auch mit guter Säure und frischer, apfeliger Frucht 90/100. Und obwohl ich überhaupt kein Fan gebrannten Alkohols bin, trieb mich die Neugier dann doch noch zu einem Gläschen 1994 Vieux Marc de Gantenbein. Der machte seinem Namen alle Ehre, nicht nur an den herrlichen Duft könnte ich mich vielleicht doch noch gewöhnen....
Und auch das neue Jahr führte uns schon wenige Tage später noch einmal in etwas größerer Runde in das gastliche Haus der Jöhris. Diesmal starteten wir mit einem 2007 Sauvignon Blanc von Irène Grünenfelder. Reife Holünderblüten und Stachelbeere, sehr mineralisch, komplex und dicht, aber gleichzeitig auch mit einer luftigen Finesse, ein großartiger, nicht alltäglicher Sauvignon Blanc, der uns ausnehmend gut gefiel 92/100. Eine weiße Offenbarung danach ein 2005 Castello Luigi Bianco. Ein enorm komplexer Chardonnay mit irrem Tiefgang, der seinem roten Pendant in nichts nachsteht, großartig 94/100. Dem folgte dann der rare 2005 Pinot Noir Unique von Donatsch. Schon ein gewaltiges Teil mit wunderbarer, reifer, süßer Kirschfrucht, mit faszinierender, druckvoller Aromatik viel Fülle und hohem Suchtfaktor, dabei etwas rustikaler und kerniger als die Top-Konkurrenten. Statt der Seide eines Eichholz hier der Samtbrokat 94/100. Als Abschluss hatte ich neugierig einen 2001 Vino de Meditazzione, einen Semillon von Kaufmann gewählt. Na ja, für den letzten Kindergeburtstag, den 16., wäre diese süße Zitronenlimonade mit Alkohol ja ganz nett, aber als Abschluss eines großen Menüs eher weniger, da einfach zu simpel. Wir hatten in schon völlig abgeschrieben, doch mit steigender Temperatur entwickelte sich da noch etwas im Glas 88/100.

Nicht nur der Weg ist das Ziel

Endlos kann im Engadin auch im Winter wandern, wer das gerne möchte. Wir haben das ausgiebig getan, wobei nicht der Weg alleine das Ziel war. In jedem der prachtvollen Täler des Engadins wartet so wie auf den erschlossenen Bergen irgendein Gasthaus mit meist unanständig guter Weinkarte. Da trifft es sich dann gut, wenn man sich vorher ausgiebig bewegt hat und ohne Ski da ist.

Nach der Wanderung zum immer noch gewaltigen Morteratsch-Gletscher(geht außer zu Fuß auch auf gespurter Loipe oder von der Diavolezza aus mit den Ski als Gletscherabfahrt) bietet sich die begehrte Sonnenterasse des Hotel Morteratsch an. Herzhafte, bodenständige Küche und eine nicht uninteressante Weinkarte, die allerdings in den letzten Jahren deutlich geschrumpft ist. Immerhin reichte es noch zu einem 2004 Aalto, der auf 95/100 Niveau wieder das Zeug zum Preis-/Leistungssieger des Urlaubs hatte.

Traumhaft schön auch das Val Roseg. Fußfaule können den langen Weg bis zum Hotel Restaurant Roseg Gletscher auch mit dem Pferdeschlitten zurücklegen. Die gute Küche und einen Blick auf die klug zusammengestellte Weinkarte verdient sich aber eigentlich nur, wer hinläuft. Gut gefiel uns der 2006 Cervaro Della Sala von Antinori. In diesem Top-Jahr konnte sich endlich mal die pikante Frucht gegen das massive Holz durchsetzen, das bei diesem Wein sonst meist die Oberhand hat. Also endlich mal mehr Frucht als Vanille, gute Säure und bei aller Nachhaltigkeit sogar etwas Eleganz 91/100. Wir haben danach dann gleich zwei Flaschen des famosen 2006 Guidalberto geleert. Das ist nicht nur der mit Abstand beste Guidalberto bisher. Er gefällt mir auch deutlich besser als alle Sassicaias der letzten 15 Jahre. Betörende Nase mit viel dunklen Früchten, rauchig, Lakritz und dezente, jugendliche Röstaromatik, auch am Gaumen viel Frucht mit erster Süße und feinem Schmelz, sehr elegant und geschmeidig, trotz gutem Tanningerüst und entsprechender Statur sehr zugänglich wirkend mit guter Länge. Macht jung bereits immensen Spaß und ist ein unbedingter Kauftipp 92/100. Klar drehte der anschließend getrunkene 2004 Ornellaia mächtig auf. Ein gewaltiger Wein mit immensem Sexappeal, jetzt in einer unglaublich guten Trinkphase, einfach ein geiles, pralles Teil mit irrer Frucht und Fruchtsüße, dazu mit sehr guter Struktur, natürlich modern und mit einem kräftigen Touch Neue Welt, aber eben unwiderstehlich 96/100.

Hoch droben auf Mouttas Muragl in über 2500m Höhe lässt es sich beim wohl spektakulärsten Blick über die Engadiner Seen und die Bergwelt vortrefflich speisen, und die Weinkarte gehört zu den besten des Engadins. Rauf laufen kann man leider im Winter nicht, aber hin, dann mit der Zahnradbahn nach oben und dort in der Höhe auf dem kilometerlangen Philosophenweg Appetit sammeln. Das haben wir ausgiebig getan, um diesen dann ebenso ausgiebig zu stillen. Mit einem 2004 Grünen Veltliner Eichenstaude von Angerer starteten wir beim ersten Besuch. Sehr kräftig, würzig und nachhaltig mit reifen, gelben Früchten, nichts für Filigrantrinker 91/100. Erstaunlich reif und weich mit feiner, würziger Fruchtsüße und schöner Länge am Gaumen dann ein 2005 Pinot Noir von Gantenbein 92/100. Kenne ich eigentlich intensiver, jugendlicher und auch besser. Erstaunlich leichtfüßig wirkte auch ein 2000 Artadi El Pison, reife Beerenfrüchte, viel Hollunder, sehr elegant mit burgundisch anmutender Pracht und Fülle 95/100.
Angetan hatte es uns beim zweiten Besuch zunächst ein 2004 Chardonnay Unique von Donatsch. Der wirkte schon erstaunlich reif mit goldgelber Farbe, rauchig, sogar etwas speckig, was zusammen mit den exotischen gelben Früchten eine etwas seltsame, aber interessante Kombination ergab, am Gaumen ein Kraftbolzen mit viel spürbarem Holz, aber auch reifer Frucht und schönem Schmelz 93/100. Weiter ging es mit einem 2000 Quinta da Gaivosa aus Portugal. Erinnerte mich spontan in seiner rauchigen, fleischigen, leicht animalischen Art und mit seinen Bluttönen an einen Côte Rotie, am Gaumen deutlich ziviler, recht elegant und sehr balanciert 92/100. Nicht voll einverstanden war ich diesmal mit dem hier vor Jahresfrist und zweimal im Sommer im Wiin Kööv mit großer Begeisterung getrunkenen 1998 Masseto. Dicht, fleischig, kräftig, mächtig, nachhaltig, aber mit verhaltener Frucht und weniger Hedonismus 94/100. Wunderschöner Abschluss der 2000 Pinot Vintage vom Donatsch. Port vom Feinsten mit toller Frucht, unendlicher, marzipaniger Süße und einer sehr guten Säure, die diesen "Port" sehr frisch hielt 94/100.

Ein in jeder Hinsicht lohnendes Ziel ist das Engadin im Winter. Aber wie sieht es im Sommer und im Herbst aus? So ganz scheinen die Engadiner die schneefreie Zeit selbst nicht ernst zu nehmen. Viele Restaurants und Hotels fahren im Sommer mit reduzierter Besetzung. Meist Italiener sind es, die hier Sommerfrische im wahrsten Sinne des Wortes suchen. Und der Herbst, eigentlich die schönste Jahreszeit zum Bergwandern, findet hier fast überhaupt nicht statt. Die meisten Betriebe schließen Ende September, spätestens Anfang Oktober. Eine löbliche Ausnahme ist das oben erwähnte El Paradiso, das in diesem Herbst bis zum 18. Oktober geöffnet hat. Ich habe mir eigentlich fest vorgenommen, dort oben einmal mittags die herbstlichen Sonnenstrahlen zu genießen. Und natürlich nächste Weihnachten wiederzukommen, um die Engadiner (W)Eindrücke von 2005/6, 2006/7, 2007/8 mit 2009/10 fortzuschreiben.