Grosse 1990er Probe

Legendär sind René Gabriels Semester-Degustationen. So auch die aktuelle Veranstaltung zum Thema 1990. Insgesamt 119(!) verschiedene Weine dieses großen Jahrgangs gab es in einem dreitägigen Probenmarathon.

Ein großes Weinjahr war 1990 in fast allen Regionen. Ein heißer Sommer bescherte fruchtige, reife, früh zugängliche Weine. 119 davon verkosteten wir vor prächtiger, alpenländischer Kulisse. Und natürlich war es eine "Real Life Degustation". Ich kann es nicht oft genug betonen. Autotests aus dem Windkanal interessieren mich nicht. Ebenso wenig interessieren mich gigantische Proben, bei denen morgens in einem kühlen Raum oder Keller massenweise Weine gekostet und ausgespuckt werden. Ob ein Auto gut ist oder nicht, entscheidet sich im Straßenverkehr. Dafür ist ein Auto gemacht. Hier muss es zeigen, was es wirklich taugt. Und auch ob ein Wein gut ist oder nicht, entscheidet sich in den Situationen, für die er gemacht ist, bei gutem Essen, angeregten Gesprächen und in netter Gesellschaft. All das war auf dieser Probe gegeben. Die große Gabriel-Weinfamilie, wie René uns gerne nennt, verkostete in stets angeregter, lockerer Atmosphäre in unterschiedlichen Restaurants der Region und auch in luftiger Höhe.

Unser Hotel war das malerisch oberhalb von Saanen und Gstaad gelegene Steigenberger. Hier verbrachten wir auch den ersten Abend in der Halte Beiz. In durchaus uriger Atmosphäre mit sehr charmantem Service, aber leicht grenzwertiger Küche gab es vier Achterflights aus mundgeblasenen Gabriel-Gläsern.
Ein hartes Stück Arbeit war der erste dieser Flights. Ziemlich alt wirkte der 1990 Pinot Noir Spiger von Donatsch, oxidative Noten, wenig Frucht, viel Säure, kurz am Gaumen 83/100. Mehr Druck, mehr Kraft hatte der immer noch recht lebendige kalifornische 1990 Calera Pinot Noir Mills Vineyard, zumindest solange, bis ein leichter Fehlton stärker wurde 88/100. Das Zeitliche wohl weitgehend gesegnet hatte der 1990 Lammersberger Mandelgarten Spätburgunder Auslese trocken von Knipser. Nur die generöse, süße Nase konnte überzeugen, der Gaumen wurde von wenig freundlicher Säure dominiert 78/100. Ähnlich auch der 1990 Beaunes Teurons von Jacques Germain. Auch hier war die Nase ok, während der Gaumen eher säuerlich und kurz mit wenig Struktur war 80/100. Ein Lichtblick der 1990 Charmes Chambertin von Geantet-Pansiot. Das war ein generöser, sehr guter Burgunder mit guter Frucht, dezenter Süße und viel Struktur, hat aber seine besten Zeiten wohl schon hinter sich 93/100. Der 1990 Charmes Chambertin von Bachelet hingegen war in der Nase maderisiert und am Gaumen noch schlimmer. Kann und darf ein 90er Burgunder so schlimm sein ? 72/100. Und dann war da noch ein 1990 Corton Bressandes von Senard. Der hatte keinen Fehler, kein Alter, aber auch keine Höhepunkte, eindimensional von der Nase bis zum Abgang 86/100. Sehr viel Luft brauchte der Schweizer Amarone, der 1990 Gantenbein Strohwein. Sehr dicht und jung die Farbe, aber zu Anfang trotz süßer Nase auch spritig und beißend am trockenen Gaumen. Baut mit der Zeit enorm im Glas aus, wird komplexer, spannender und auch weicher 94/100. Wer das volle Potential dieses Weines erleben möchte, gönnt ihm 4 Stunden in der Karaffe.

Auch der zweite Flight passte eher zur Küche als zu einer großen 90er Probe. Mottenpulver hatte der 1990 Cabernet von Donatsch in der Nase, am Gaumen war er kurz und bitter 80/100. Erstaunlich schön ein 1990 Fusto 4 Merlot e Pinot von Daniel Huber, sehr feine, rauchige, schokoladige Nase, am Gaumen schokoladige Fülle 90/100. Ganz ok, aber mehr nicht ein wenig inspirierender 1990 Cabernet Sauvignon von Igler, viel Paprika, grüne Noten, schlank am Gaumen 85/100. Laktisch die Yoghurtnase des 1990 Contino Reserva, am Gaumen gemüsig, wie so viele, ältere Riojas, und schlank 86/100. Leider korkig der sonst sicher spannende 1990 Mauro Reserva. Ein Lichtblick der altersfreie, fruchtige, süße, würzige und sehr gefällige 1990 Pesquera Reserva, der noch genügend Struktur und innere Dichte für viele Jahre hat 92/100. Erstaunlich dünn und enttäuschend dagegen eine 1990 Vega Sicilia Unico Reserva Especial, das kann nur eine suboptimale Flasche gewesen sein 86/100. Eigentlich passte dieser Wein ohnehin nicht in die 90er Probe. Die regelmäßig von Vega Sicilia produzierten Unico Reserva Especials sind stets Cuvées aus 3-4 älteren Jahrgängen. In diesem 90er, bei dem der Jahrgang nur den Zeitpunkt der Freigabe angibt, war also alles drin, nur kein 90er. Rustikal, wild, animalisch, bissig und kräftig ein 1990 Bouscassé Vieilles Vignes aus Madiran, wirkt leicht austrocknend und irgendwie noch unfertig am Gaumen, weglegen und auf ein Wunder hoffen 89/100.

Großes Aufatmen, als endlich ein paar anständige Bordeaux ins Glas kamen. Laktisch die Nase des 1990 Gruaud Larose, pikant die Frucht, baut gut im Glas aus, genug Rückrat für eine längere Zukunft 91/100. Geradezu erotisch mit süßer, fruchtiger Traumnase 1990 Leoville las Cases, auch am Gaumen süße, aber präzise Frucht sowie ein gutes Tannin- und Säuregerüst für ein langes Leben 95/100. Sehr reif schon der 1990 Cantenac Brown, ein solider, kräftiger Wein mit viel Kaffee und guter Fülle 88/100. 1990 Lascombes stammt noch aus der Zeit, als dieses Gut noch nicht wach geküsst worden war, kein Vergleich zur heutigen Qualität. Dieser Jahrgang hier war elegant, fein und dünn, viel Säure, wenig Struktur 86/100. Großartig 1990 Palmer, der jetzt schon hält, was der 89er immer noch verspricht. Eine wunderschöne, süße Zedernholzorgie mit erotisch-burgundischer Fülle 95/100. Schade, dass auch 1990 Figeac wieder diese klassisch korkig wirkende Figeac-Nase hatte. Darunter verbirgt sich ein großartiger Wein mit viel Substanz, nicht riechen saufen! 94/100. Wenn man die Nase in das Glas mit 1990 Tertre Roteboeuf steckt, fliegt einem eine komplette Pralinen Packung entgegen, auch am Gaumen ist das ein kraftvoller Wein mit explosiver Aromatik, um Längen über dem 89er des Gutes 96/100. Ein gewaltiges Konzentrat in der Nase und am Gaumen ist 1990 Beauséjour Duffau Lagarosse, rauchig die Nase mit Teer und dunklen Früchten, am Gaumen Kraft ohne Ende, perfekte Tanninstruktur, hohe Mineralität und irre Länge. Nicht nur einer der besten, sondern auch der langlebigsten 90er, die 100/100 aus der überwältigenden Fruchtphase dieses Weines sind wieder in Sicht 97+/100.

Sehr gefällig und noch voll intakt der 1990 Montagna Magica von Huber, schokoladig und generös die Nase, die auch einem guten Pomerol zur Ehre gereichen würde, der Gaumen kam da nicht ganz mit 92/100. Gefiel mir persönlich besser als der 1990 Merlot Gran Riserva von Klausener. Der war zwar auch noch gut trinkbar und hatte eine erstaunlich dichte Farbe, doch mischten sich da unter die korinthige Süße auch störende, grüne Noten 89/100. Ist wohl schon deutlich über die optimale Genussreife hinaus. Das gilt noch mehr für den zwar noch trinkbaren, aber schon verdammt alten 1990 Grand Vin von Buitenverwachting aus Südafrika 81/100. Ein Vollblut-Shiraz immer noch der 1990 The Armagh von Jim Barry, pfeffrig-würzig die Nase, zimtig, fruchtig, Erdbeerkonfitüre, auch am Gaumen süß, fruchtig und einfach dekadent lecker 94/100. Schwierig dagegen der 1990 Henschke Cabernet Cyril Henscke, der noch süß, aber auch reichlich diffus und überreif war 75/100. Klar war der 1990 Penfolds Grange nicht ganz sauber, aber ein richtiger Kork war das auch nicht, zumindest wehrte sich dieser großartige Wein mit seinem süßen Schmelz erfolgreich dagegen. Hatte ich schon mal außerweltlich mit 100/100 im Glas, so waren es "nur" 96/100. Ein völlig anderer Stil der 1990 Penfolds Shiraz St. Henri, weich, süße Frucht, burgundische Fülle 93/100. Nicht zurecht kam ich mit dem 1990 Wynns Cabernet Sauvignon von John Riddoch, grün, grasig, viel Paprika, hohe Säure und harsches Resttannin 84/100.

Und dann waren da noch die beiden Tischweine. Bemerkenswert war am 1990 Brown aus Pessac nur die Farbe, ansonsten war das ein ziemlich nichtssagendes Gewächs mit wenig Frucht, bei dem auch der Großflaschenbonus(Jeroboam) nicht half 80/100. Die Publikumswertung für einen solchen Wein lässt sich immer daran erkennen, wie schnell er ausgetrunken wird. Hier dauerte es ewig. Immerhin konnte ich noch ein Glas des als Ersatz vorgesehenen 1990 Poujeaux probieren. Der glänzte jetzt auch nicht gerade durch übermäßigen Charme, war aber dicht, kräftig mit dunklen Früchten 89/100.

Es gab doch tatsächlich welche, die am nächsten Mittag selbst den überschaubaren Weg zum malerisch etwas oberhalb unseres Hotels gelegenen Restaurant Sonnenhof noch mit dem Auto zurücklegten. Dabei war das erheblich weniger anstrengend, als die beiden ersten Weinflights. Italien war für diese Lunchprobe angesagt. Aber erstmal genossen wir bei prächtigem Sonnenschein die herrliche Aussicht von der Terrasse des Sonnenhof über das Gstaadter Tal. Während Patrick Bopp den ersten Sechserflight vorbereitete, griff René Gabriel zum Akkordeon. Was für eine wunderbare Stimmung, die später in den gemütlichen Gaststuben noch von hervorragender Küche gekrönt wurde. Reif war die Farbe des 1990 Torgiano Rosso Vigna Monticchio Rieserva von Lungarotti, in der Nase Unterholz, Waldpilze, am Gaumen rustikal, erdig mit viel Säure. Ein Wein, der viel Luft brauchte, dabei dann weicher und gefälliger wurde 85/100. Ein ganz anderes Kaliber der 1990 Pin von La Spinetta, auch der startete bissig mit hartem Resttannin, sehr kräftig und nachhaltig am Gaumen, baute aber enorm im Glas aus und entwickelte eine betörende Himbeerfrucht, gefiel mir ausnehmend gut, gehört aber sicher auch in den nächsten Jahren getrunken 92/100. Das gilt auch für den 1990 Vigna Larigi von Elio Altare, der seine besten Zeiten schon hinter sich hat. Ein rustikaler Wein, der trotz Reife durch die hohe Säure immer noch vermeintliche Frische andeutet 88/100. Kaputt war leider der 1990 Barolo Cerequio von Michele Chiarlo. Was da mit heller, rostbrauner Farbe im Glas schwamm, stank wie die Hölle und erinnerte allenfalls noch an Bratensoße. Nichts mehr los auch mit dem
1990 Cortona Desiderio von Avignonesi, pilzig, sehr medizinal, mehr Penicillin als Wein 70/100. Anstrengend, gezehrt, sehr bitter im kurzen Abgang der 1990 Canetto d Angelo von Basilicata 78/100.

Den diversen Weinen des Castello di Ama war der nächste Flight gewidmet. Merken muss man sich davon eigentlich nur einen, den 1990 l Apparita. Dieser Wein aus 100% Merlot war ganz großes Kino und in der Klasse der besten Massetos, endlich Reife zeigend, Traumnase mit Minze, Eukalyptus, Schokolade und pflaumiger Frucht, am Gaumen explosiv und sehr lang, in guten Flaschen sicher noch mit 10+ Jahren Zukunft 97/100. Gegen diesen großen Wein waren alle anderen Castello di Amas eigentlich nur Weinchen. Sehr reif mit deutlichen oxidativen Noten der 1990 Vigneto San Lorenzo 81/100. Sehr hell die Farbe des 1990 Vigneto Il Chiuso, lakritzig die Nase, sehr dünn der Gaumen 79/100. Recht gut trank sich der 1990 Vigneto Bellavista, der aber auch etwas hart und monolithisch wirkte 84/100. Der 1990 Vignato Bertigna war korkig. Der 1990 Vigneto Cassucia immer noch gut trinkbar, aber auch metallisch, hart und eindimensional 83/100. Sicher alles Weine, mit denen man sich vor Jahren gut die Wartezeit auf die Reife des l Apparita hätte verkürzen können.

Bitte ein Glas freimachen, hieß es dann. Für den grandiosen 1990 Barolo Sperss von Angelo Gaja aus der Doppelmagnum hätte ich gerne 5 Gläser freigemacht. Eine kernige, immer noch junge Barolo-Persönlichkeit mit wunderbarer Frucht, Trüffeln, Lakritz und Teer in der faszinierenden Nase, perfekte Struktur am Gaumen mit feiner Süße, wahrscheinlich das erste Mal, dass ich einen Barolo als Charmeur bezeichnet habe 96/100. Noch sehr langes Leben und jede Suche wert.

1990 Guado al Tasso startete mit der typischen, schweißigen Nase, die an den Schuh einer Marathonläuferin erinnerte. Läuferin? Ja, denn wenn es mal über den Schuh geschafft hat, wird es schöner. Sicher etwas über den Zenit, aber immer noch mit schöner Fülle am Gaumen, legt enorm im Glas zu und wird süßer 92/100. Weich, schmelzig, schokoladig war 1990 Masseto, aber nicht mit der Dichte und Dramatik jüngerer Massetos, für den Namen und das viele Geld eher enttäuschend 93/100. Kraftvoll, fruchtig und noch voll da 1990 Ornellaia. Der macht es mit seiner dekadent leckeren Frucht, der guten, balancierenden Säure und der eigentlich für jüngere Ornellaias typischen Opulenz sicher noch lange Jahre 94/100. Abhaken wollte ich erst den 1990 Sammarco vom Castello di Rampolla. Mit den deutlichen Brauntönen in der Farbe und den Reifetönen in der Nase und am Gaumen passte er erst nicht so recht in diesen Flight. Doch der Sammarco baute enorm im Glas aus, entwickelte eine malzige, korinthige Süße und eine erstaunliche Kraft am Gaumen 91/100. Sehr positiv überrascht hat mich aus der Magnum 1990 Sassicaia, den ich aus der 1tel eigentlich nur als eher frustrierende Dauerenttäuschung kenne. So jung noch die Farbe, so würzig und pikant die kirschige Frucht, dazu Minze, Leder und Cassis, am Gaumen die Struktur eines großen Pauillac und eine feine Süße im Abgang 95/100. Bei 1990 Pergole Torte aus der Doppelmagnum schieden sich dann die Geister. Dieser Sangiovese war völlig anders als die Cabernet und Merlot-basierten Schmusemonster dieses Flights. Sehr kräftig, komplex, immer noch mit guter Frucht, sehr kräuterig, etwas Schoko, aber eben auch mit deutlicher, etwas harscher Säure, ein edel-rustikaler Wein für Fans dieser Stilrichtung 92/100.

Und dann war da noch eine Magnum 1990 Castel Schwanburg, die ein edler Spender mitgebracht hatte. Vor langen Jahren galt dieser Wein mal als Sensation und Überflieger. So liegt er auch noch in meinem Keller in diversen Formaten, die ich besser im letzten Jahrtausend geleert hätte. Als Patrick Bopp den Korken zog, roch der penetrant nach Diesel. Die erste Nase aus der Flasche war dann ein voller Heizöltank. Es blieb nicht ganz so schlimm. Immerhin war der Wein mit seiner dichten, erstaunlich jungen Farbe noch schön anzuschauen. Die Nase, die einen leichten Heizöltouch behielt, wurde etwas gefälliger, allerdings auch grünlicher, am Gaumen war der Wein erstaunlich trinkbar. Vielleicht sollte ich demnächst doch noch mal eine Flasche aus dem Keller holen und lange vorher dekantieren. Bei der letzten Flasche vor drei Jahren bin ich irgendwann frustriert ins Bett gegangen, um mir dann am nächsten Morgen anhören zu müssen, zwei Stunden später sei das ein wunderbarer Wein mit schöner Süße gewesen.

Am Abend war dann die Chesery in Gstaad angesagt, das beste Restaurant der gesamten Region. Natürlich hatten wir uns fürs kulinarische Hochamt alle in Schale geworfen. Wir wurden nicht enttäuscht, weder von der grandiosen Küche, noch von den Weinen des Abends.

Erstaunlich gut gehalten hat sich der 1990 Grüne Veltliner von den Terrassen Smaragd von F.X. Pichler, immer noch recht frisch und fast altersfrei mit würziger Frucht und guter Säure 92/100. Überragend der 1990 Grüne Veltliner Smaragd in der Vinothekfüllung von Knoll aus der Magnum. Sehr vielschichtige, mineralische, nussige Nase, am Gaumen sehr elegant und ungemein druckvoll zugleich mit pfeffriger Würze, immer noch so frisch, in Richtung eines großen Montrachets gehend, ein legendärer Wein 97/100. Mineralisch mit leichter Restsüße der 1990 Riesling vom Stein Smaragd vom Nicolaihof, in der Anmutung eher Rheingau als Wachau, erste oxidative Noten 88/100. Völlig daneben, mehr nasser Hund als Wein der 1990 Riesling vom Weingebirge Smaragd vom Nicolaihof. Blumig-parfümiert, frisch, floral und etwas an Sauvignon Blanc erinnernd die Nase beim 1990 Riesling Schütt Smaragd von Knoll aus der Magnum, am Gaumen noch so frisch, fruchtig und lebendig mit guter, stützender Säure, sehr elegant, wirkt 15 Jahre jünger 95/100.

Reif, weich, rund und einfach lecker mit süßer, an Stachelbeermarmelade erinnernder Frucht präsentierte sich 1990 Phélan Ségur. Die recht helle Farbe deutet an, dass sich dieses Phélan-Wunder nicht mehr ewig fortsetzen wird 92/100. Bald trinken, besser wird er nicht. Ziemlich charmefrei zeigte sich 1990 Haut Bages Liberal, einem kleinen Wein aus großem Jahr, der recht sperrig wirkte und etwas harschen Resttanninen und zuwenig Frucht, dürfte weiter abbauen 87/100. Ziemlich belanglos auch 1990 Haut Batailley, viel Holz und wenig Frucht bei dieser Wein-Spaßbremse 85/100. Ein ganz anderes Kaliber 1990 Clerc Milon, kraftvoll, hocharomatisch mit würziger Frucht, Leder und toller Struktur 93/100. Eigentlich ist 1990 Pichon Baron ein echtes Prachtstück von Wein mit exotisch üppiger, kalifornisch anmutender Frucht und der Struktur eines großen Bordeaux, aber bei dieser wohl nicht optimalen Flasche trübten grüne Paprikatöne das große Vergnügen 94/100.

Ungeteilten Beifall erhielt Tischwein #1, ein 1990 Pape Clement aus der Jeroboam. Ein großer Pessac mit satter, pflaumiger Frucht, mit viel Tabak, Teer, Lakritz, Bitterschokolade und Leder, gewaltige Struktur und sicher noch ein langes Leben 95/100. Kein Wunder, dass sich diese Jero im Rekordtempo leerte. Als "Kampfnipper"(immerhin gab es in dieser Probe jeweils 18 Trinker bzw. Gläser pro Flasche) war es ein gutes Gefühl, endlich mal wieder aus einem vollen Glas trinken zu dürfen.

Und dann ging es weiter mit kalifornischer Frucht und Sonne. Auch dort war 1990 ein Traumjahrgang mit kleiner, aber hochwertiger Ernte. Paradebeispiel der 1990 Silver Oak Napa Valley. Hedonismus pur, diese kalifornische Johannisbeer und Cassis Weinorgie, einfach dekadent lecker, aber nicht überzogen oder aufgesetzt, sondern mit sehr präzisen Konturen. Nach 20 Jahren immer noch so frisch und keinerlei Alter in Sicht 95/100. Für mich ist das so eine Art kalifornischer Grand Puy Lacoste. Noch eine Ecke drüber 1990 Caymus Special Selection. Auch das eine hemmungslos geile Spaßnummer, aber auf was für einem Niveau! Cassis pur, reife Brombeere, Eukalyptus, Minze, sehr mineralisch, am Gaumen kräftig und lang mit dekadenter Süße, aber auch mit großartiger Struktur und sehr fein und elegant, auch hier kein Alter in Sicht 97/100. Nicht mithalten konnte in diesem Flight der 1990 Shafer Cabernet Sauvignon Stags Leap District, aber wir hatten wohl auch eine schlechte Flasche erwischt, oxidativ mit Malaga-Noten, eher an alte, überlagerte Schokolade erinnernd, schade. Dafür konnte der 1990 Stag s Leap Cask 23 voll überzeugen. Schon recht reif, aber sehr gut im Glas ausbauend, Finesse pur mit burgundischen Konturen, ein ganz großes kalifornisches Weinerlebnis 96/100. Gut zu trinken auch immer noch der 1990 La Jota Howell Mountain Cabernet Sauvignon mit dunklen Früchten, Minze, Leder und Zedernholz 91/100.

Reif, minzig, elegant mit feiner Frucht der 1990 Beaulieu Georges de Latour Private Reserve, der aber bald getrunken gehört 92/100. Reif wirkte auch 1990 Opus One, aber durchaus noch mit Reserven für etliche Jahre. Ein eleganter, finessenreicher Wein mit guter Frucht, Minze und Leder, der mit der etwas klassischeren Handschrift früherer Opus-Jahrgänge als großer Bordeaux durchging 94/100. Reif, süß, vollbusig, aber auch etwas simpel der 1990 Heitz Trailside 89/100. Schwierig dann 1990 Heitz Bella Oaks, war der korkig? Er hatte zumindest zu Anfang diesen üblen, unsauberen Ton, der auch den 85 Martha s so verhunzt. Mit der Zeit verschwand das alte Fass stückweit aus dem Glas. Vermehrt machten Kischfrucht, Minze, Leder und Teer diesen Klassiker deutlich besser trinkbar 90/100. Wie gut er bei mehr Sorgfalt im Keller hätte werden können zeigte der überwältigende 1990 Heitz Martha s Vineyard, für den man wohl die besseren Fässer benutzt hatte. Diesen Wein hatte ich schon in allen Schattierungen von grottenschlecht bis großartig im Glas. Dies hier war meine bisher beste Flasche. Einfach ein geiles, minziges Konzentrat mit reichlich Eukalyptus, immer noch so jung und so unglaublich druckvoll am Gaumen, schien geradezu seine Bewerbung als Nachfolger des legendären 74ers einreichen zu wollen 96+/100. Wenn da nur auf jeder Flasche draußen draufstände, was einen drinnen erwartet.

Massive Konkurrenz bekamen die Kalifornier durch den zweiten Tischwein, 1990 La Mission aus der Jeroboam. Ein atemberaubender, gewaltiger La Mission auf dem Wege zur Perfektion. Spektakulär die typische Cigarbox-Nase, explosiv und immens druckvoll der Gaumen, wird dem 82er immer ähnlicher, der auch lange unterschätzt wurde. Die 97/100 dieser Flasche sind wohl noch nicht das Ende der Fahnenstange. Wer einen großen La Mission sucht, sollte hier noch zuschlagen, auch wenn er nicht mehr die bescheidenen € 34 kostet, die ich seinerzeit in der Subskription bezahlt habe.

Erstaunlich gut fand ich den bei Parker mit nur 77 Punkten geradezu hingerichteten 1990 Lagrange Pomerol, immer noch recht kräftig, aber auch reif mit weichen Tanninen, pflaumiger Frucht, erdig, etwas Lakritz und Schokolade. Kein komplexer Überflieger, aber sehr solider Genuss, der auf Auktionen sicher für ganz kleines Geld abzuholen ist 90/100. Großartig fand ich den 1990 Clinet, ein dichter, voller, üppiger, kräftiger und schokoladiger Merlot, der den 89er des Gutes sicher überleben wird 95/100. Nix mehr los mit 1990 Clos du Clocher, gemüsig, alt und hin 82/100. Ein Traum und für mich einer der größten Weine der gesamten Probe 1990 Trotanoy, ein gewaltiges Konzentrat zwar mit großer Zukunft, aber auch schon sehr viel zeigend, nicht nur in der betörenden, kräuterig-trüffeligen Nase, auch am Gaumen verwöhnte dieser Wein bei aller Power mit einer feinen, süßen Textur 98/100. Meine bisher beste Flasche dieses Weines, der in seiner Jugend oft verkannt wird, viele Jahre zur Reife braucht, und an dem ich schon oft verzweifelt bin. Eigentlich hätte er seinen Meister im 1990 Lafleur finden müssen, aber der sang leider nicht. Man spürte die gewaltige Substanz dieses Weines, der vor Kraft kaum Laufen konnte, aber es war wohl ein schleichender Kork, der diesem Mörderteil (100/100 auf der Lafleur Best Bottle) Frucht und Spaß raubte.

Mit zwei Sauternes-Magnums beschlossen wir diesen Abend. Dem 1990 La Tour Blanche schien das große Format deutlich zu helfen, ein kräftiger, nachhaltiger, nicht zu süßer Sauternes mit Orangen Bittermarmelade und Crême Brulée, blieb sehr lang am Gaumen 94/100. 1990 Rieussec war deutlich süßer, fetter und für mich eigentlich zuviel des Guten, mit Quittenextrakt, viel Honig, etwas breit am Gaumen und schon sehr weit 92/100.

Patrick Bopp und René Gabriel

Patrick Bopp und René Gabriel

Gut, wir hatten bei einigen Flaschen dieser Probe viel Pech. Dafür aber hatten wir um so mehr Glück mit dem einmaligen Bergwetter. Sonne pur, angenehme, warme Temperaturen und sich bereits leicht verfärbende Bäume. Da konnte man sich kaum satt sehen. Mit meinen beiden Sportsfreunden von der 89*89 Probe in Flims hatte ich mir wieder Mountain Bikes geliehen, mit denen wir uns rund um Gstaad in dieser einmaligen Bergwelt austobten. Das machte nicht nur unglaublichen Spaß, es hatte auch handfeste Vorteile. Mit kräftig durchgepustetem Riechorgan und leerem Magen machten uns die Weinveranstaltungen doppelt Spaß. Das Rellerli, ein knapp 1900m hoher Berg mit einer atemberaubenden Rundumsicht stand am Samstag auf unserem Programm. Natürlich sind wir da mit dem Mountainbike hoch. Und auch der Sportsfreund, der im letzten Jahr am zweiten Tag schlapp machte, zeigte sich in blendender Verfassung. So ganz nebenbei wurden wir beim Anstieg auch noch Zeuge des Almabtriebs mit prächtig geschmückten Kühen.

Oben auf dem Rellerli warteten auf uns zu einem rustikalen Menü und alpenländischer Musik zwei Imperiales. Doch erstmal habe ich zwei Liter Wasser in mich reingeschüttet. Die Zurückhaltung bei den beiden Weinen wir hatten ja noch eine rasante Abfahrt auf der anderen Bergseite und weitergehende Pläne vor uns fiel nicht schwer. Der 1990 Mazeyres aus Pomerol war ein nettes, erstaunlich gut trinkbares Weinchen, immer noch mit etwas rotbeeriger Frucht, aber mit wenig Tiefgang 81/100. Spannender hätte 1990 Armailhacq sein können, aber der entwickelte leider einen immer stärkeren Kork.

Schön eingedeckt war eine große Tafel im Steigenberger am Samstag Abend. Auch die Küche gab sich alle Mühe und war um Lichtjahre von dem entfernt, was uns zwei Abende davor in der Beiz vorgesetzt worden war. Und doch wäre dieser Teil der Probe fast für einen Teil von uns in die Hose gegangen. Beständig schwabberte da zu Anfang eine billig-süßliche Vanillenote über den Tisch und machte das Verkosten sehr schwierig. Ich fühlte mich unwillkürlich an die "Parfümierte Bauernnutte" erinnert. Aber woher kam diese Wolke? Nachdem wir uns an unserer Ecke des Tisches reihum vergeblich gegenseitig denunziert hatten, kam mir spontan ein Verdacht. Als ein bestimmtes Mädel der Servicecrew wieder bei uns vorbeirauschte, roch ich genau hin, schnappte sie mir und marschierte mit ihr nach draußen. Volltreffer! Die junge Dame hatte speziell für diesen Abend statt eines Lächelns, dass sie uns schon beim Frühstück penetrant verwehrte, sehr reichlich Parfüm aufgelegt - was für ein Alptraum. Sie ward anschließend nicht mehr gesehen, welch ein Segen.

Im ersten Flight des Abends stand zunächst der 1990 Spumante Cuvée Anna Maria Clemente von Ca del Bosco aus der Jeroboam gegen 1990 Dom Perignon. Hätte eigentlich ein klarer Punktsieg für Dom Perignon sein müssen, war es aber nicht. Der Spumante war mal wieder die bessere, sehr gelungene Champagner-Alternative mit durchaus nicht unähnlicher Aromatik. Reif mit dezentem Mousseux, faszinierende Nase mit viel Brioche und dicker Brotkruste, am Gaumen immer noch Frische zeigend und recht pikant mit guter Säure, einfach gelungen mit feiner Bitternote im Abgang - 93/100. Dom Perignon ist sicher der komplexere, mineralischere von beiden. Nur schmeckten die beiden Flaschen des Abends halt so, als ob sie eine ausgiebige Neon-Bestrahlung in einem Supermarkt genossen hätten, einfach müde und krautig.
Erstaunlich frisch wirkte immer noch der 1990 Pavillon Blanc, sehr fein, eher etwas schlank und pikant, erinnerte mit frisch ausgepressten Lychees und etwas Stachelbeere an jüngere Sauvignon Blancs 89/100. Ältere, hochklassige Grüne Veltliner werden ja großen Montrachets immer ähnlicher. Beim 1990 Montrachet Marquis de Laguiche von Drouhin war es genau umgekehrt. Der erinnerte eher an einen sehr reifen Grünen Veltliner und war sicher schon ein Stück über den Zenit hinaus. Immer noch sehr mineralisch mit Kraft und Fülle, aber passend zum reifen Goldgelb in der Nase auch deutliche Reifetöne, Gummiboot 93/100. Eine feine Schiefer-Honig-Kräuternase hatte die 1990 Trittenheimer Apotheke Auslese*** von Grans-Fassian, sehr süß, wenig Säure, fast etwas dick, jetzt nicht in der besten Phase 91/100. Hat mir vor 10 Jahren mit jugendlicher Frische deutlich besser gefallen und wird es wahrscheinlich auch in 10 Jahren wieder tun.

Vor eine harte Prüfung wurden wir mit dem nächsten Flight gestellt. Es galt, 8 große 90er blind zu verkosten und den acht angegebenen Chateaus richtig zuzuordnen. Eigentlich keine unlösbare Aufgabe, wenn man die Weine und ihre Charakteristik kennt, und die Weine sich so verhalten, wie man es erwartet. Ich erinnere mich noch gut daran, wie René Gabriel vor über 15 Jahren 10 Gruaud Larose perfekt den Jahrgängen zuordnete. Damals bin ich mit noch mangelnder, eigener Trinkerfahrung vor Ehrfurcht im Boden versunken. An diesem Abend war die Angelegenheit noch deutlich diffiziler, denn leider schlugen vier Weine aus der Art und machten das Ganze so zum Ratespiel. Der Latour war zu schlecht, der Mouton zu gut, der Montrose zu reif und der Haut Brion zu jung. Da helfen dann die gespeicherten Geschmacksmuster nicht weiter. Das Puzzle passte einfach nicht zusammen.
Ein Traum schon die Nase dieses dekadent leckeren, üppigen, süßen 1990 Cheval Blanc, auch am Gaumen süß, ungemein druckvoll und aromatisch, dabei trotzdem auch fein, elegant, delikat mit etwas Zedernholz und guter Struktur 98/100. Erinnert mich immer wieder an den legendären 47er und könnte dessen Wiedergeburt sein. Auch der soll sich nach Zeitzeugen schon Anfang der 50er sehr offen gezeigt haben. Kann ich selbst nicht bestätigen, da ich damals noch Milch nuckelte, erst aus dem Orginalbehältnis, danach aus der Flasche. Wenn man sich aber mal das gewaltige Trinkfenster des 47ers ansieht, der heute aus guten Flaschen immer noch voll da ist, dann zeigt das, wie viel Zukunft der 90er noch haben dürfte, auch wenn er sich heute und seit etlichen Jahren schon so offen zeigt. Immer noch jede Suche und trotz exorbitanten Preises jeden Cent wert, nur auf einwandfreie Herkunft sollte man unbedingt achten. Seltsam, wie der 1990 Haut Brion Achterbahn fährt. Um die Jahrtausendwende ein Shooting Star, dem 89er dicht auf den Fersen. Dann eine längere Phase in der er schwächelte. Und jetzt wie schon öfter in den letzten Jahren eine Flasche, in der er noch nicht ganz auf dem Höhepunkt zu sein schien, sehr kräftig und konzentriert, die Cigarbox-Nase etwas verhalten, tolle Struktur und gewaltiges Potential 94+/100. Zu den langlebigsten 90ern dürfte 1990 Lafite Rothschild gehören, ein gewaltiges, immer noch tanninbetontes Kraftpaket, aber auch mit nobler Eleganz, sehr mineralisch, Zedernholz, feine rotbeerige Frucht 97+/100. Nein, den gönne ich den Chinesen nicht. Enttäuschend auf allerdings hohem Niveau 1990 Latour, den ich deutlich anders, offener und süßer kenne. Aus dieser Flasche hier wirkte er bei aller Kraft und Tiefgang deutlich ernster und verhaltener mit etwas grasigen und floralen Noten 96/100. Recht jung fand ich immer noch den 1990 Margaux. Ein sehr aromatischer Wein mit feiner Süße, mineralisch, etwas Tabak, die Walnuss von Latour, fleischig, sehr lang am Gaumen 96/100. Reines Lotteriespiel ist das Trinken von 1990 Montrose. Mehrere abweisende, zugenagelte Flaschen hatte ich davon in den letzten Jahren, aber auch ein paar 100/100 Erlebnisse. Diesmal waren wir wieder nah dran am Jackpot. In der etwas verhaltenen Nase kühle, elegante, rotbeerige Frucht, am Gaumen aber enormer Druck, Kraft und Länge, dazu eine dekadente Süße. Deutlich irritiert hat mich nur, dass der Montrose am Gaumen sehr reif und rosinig erschien 99/100. Sehr angenehm überrascht war ich von 1990 Mouton Rothschild, von dem ich in den letzten Jahren soviel enttäuschende Flaschen getrunken habe. Aber das hier war Mouton in Reinkultur, eine perfekte, hedonistische Weinoperette mit herrlicher, von Röstaromatik geprägter Nase mit viel Kaffee, Leder und vor allem viel Süße, am Gaumen wenig Tiefgang, aber auch hier üppige Süße 96/100. Und dann war da noch dieses Monument namens 1990 Petrus, kein Hammer, zumindest im derzeitigen Stadium nicht, aber ein puristisch schöner, absolut stimmiger Wein mit enormem Druck und viel Kraft am Gaumen, wohl verpackt die reifen, aber mächtigen Tannine, erste feine Süße und der Eindruck gebrannter Mandeln. Bis zur endgültigen Trinkreife dieses Weines sind sicher noch mal 5-10 Jahre angesagt 98+/100. Die 100/100 für den seinerzeit für mich besten Wein der 90er Arrivage-Proben sind also in Sicht.

Etwas kleiner wurden die Weine im nächsten Flight. Dafür wurden die Gläser voller, denn wir tranken alle Weine aus Magnums. Pflaumige Frucht, Zedernholz, Minze, aber auch Blumenerde und harsches Resttanin zeigte der 1990 Corison Cabernet Sauvignon, insgesamt etwas dünn, war wohl nie besser und hat keine Zukunft 88/100. 1990 Latour à Pomerol ist ein feiner, eleganter, reifer Schmeichler mit wenig Tiefgang auf 90/100 Niveau wenn er keinen Kork hat, wie unsere Magnum. Horror dann der überreif-portig-amaronige 1990 Troplong Mondot. Wurde der damals statt aus Trauben aus Malaga-Rosinen gemacht? Eine Schande für den Jahrgang 83/100. 1990 Gazin war mal wieder ein fülliger, saftiger, schokoladiger Vollblut-Merlot, brauchte Luft und hat noch Potential für viele Jahre 95/100. Mehr Trinkspaß aus Pomerol für ähnliches Geld ist schwierig. Wer schlau ist, legt sich davon noch eine Kiste zu. Und wer noch schlauer ist, legt daneben eine Kiste des mindestens so guten 89ers. Aus der 1tel mag der 1990 Les Forts de Latour schon leicht schwächeln, aber aus der Magnum ist das ein kleiner, sehr feiner und aromatischer Latour für Schlaue mit der typischen Walnussnote, Minze, etwas Trüffeln, guter Struktur am Gaumen und langem Abgang 93/100. 1990 Cos d Estournel, seinerzeit in der Fruchtphase ein absoluter Überflieger, ist noch lange nicht wieder da, wo er einmal war. Aber er präsentierte sich überraschend schön mit dunkler Frucht, viel Kaffee, recht offen 93/100. Und da kommt sicher noch mehr. Viele schreiben diesen Wein ab. Ich setze eher darauf, dass er weiter zulegt und analog dem 82er in ein paar Jahren noch mal richtig kommt. Eigentlich stand der großartige
1990 Grand Puy Lacoste im falschen Flight. Der hätte auch vorher unter den Premiers eine hervorragende Figur gemacht. So fein, elegant und finessig, mit Zedernholz, reifer, süßer Johannisbeere und etwas Tabak, da ist jede Menge Trinkspaß im Glas 96/100. Klar wirkt der reif, aber das tut der immer noch taufrische 82er des Gutes auch schon lange. Hier ist noch Musik für lange Jahre. Wenn der 82er mal abnippelt, dann gehört der 90er in den darauffolgenden 8 Jahren "zügig" ausgetrunken. Noch recht jugendlich mit dichter, junger Farbe kam der etwas burschikose 1990 Sociando Mallet daher, sehr kräftig mit spürbaren Tanninen, aber auch mit dunklen Beeren, sehr lang im Abgang und Zukunft satt 92/100.

Erstaunlich gut hielt sich der Tischwein, ein 1990 Les Ormes-Sorbet, aus der praktischen 15-Liter-Flasche. Da kam überraschend viel unkomplizierter Trinkspaß ins Glas 89/100. Unbedingt in der 15-Liter-Flasche nachkaufen(!).

Fehlte noch ein wichtiges Weingebiet? Na klar, die Rhone. Mit der endete der letzte Flight des Abends und der Probe. Animalisch, kräftig, zupackend der noch recht jung und auch etwas aggressiv wirkende 1990 Fonsalette Côtes du Rhone Cuvée Syrah, erinnerte etwas an zu junge La Landonnes und gehört eigentlich deutlich länger dekantiert 90+/100. Deutlich offener zeigte sich 1990 Chateau de Beaucastel, den ich noch nie so schön im Glas hatte, sehr würzig, kräuterig mit burgundischer Pracht und Fülle, kleidete den kompletten Gaumen aus. Ein Traum-Beaucastel, der jetzt sein optimales Trink-Plateau erreicht, auf dem er sicher 10+ Jahre bleiben wird 96/100. Noch eine Ecke drüber und sicher reif der großartige 1990 Chateau Rayas Chateauneuf-du-Pape, eine der Legenden aus Chateauneuf. Verschwenderische, süße Nase mit reifer Erdbeere und viel Kräutern, Trüffel, auch etwas rosinig, am Gaumen ausladend, einfach sexy, sehr süß, aber auch ungemein komplex und vielschichtig, dabei sehr lang 98/100. Warum keine 100/100? Weil ich ihn kürzlich erst wieder aus einer perfekten Magnum getrunken habe, aus der er noch mal deutlich dichter, dramatischer und komplexer war. Aus der 1tel gehört dieser Wein sicher bald getrunken. Wie ein armer, etwas spröder Verwandter wirkt da im Vergleich der 1990 Hermitage La Sizeranne von Chapoutier. Klar ist der auch kräftig, animalisch und zeigt auch etwas Süße, aber die burgundische Fülle fehlt, er bleibt auf hohem Niveau herb und charmefrei 92/100. Erstaunlich schön trank sich der 1990 Hermitage von Guigal. In der offenen Nase reife Schwarzkirschen, Rauch, Leder, Gewürze, Lakritz, Teer, am Gaumen sehr würzig mit schöner Süße, immer noch recht jung wirkend 95/100. Satte 100 Parker-Punkte hat der 1990 Ermitage le Pavillon von Chapoutier, das ist ja schon mal eine Ansage. Aber wann kommen die bitte ins Glas? Man spürt die unbändige Kraft, das gewaltige Potential dieses Weines. Doch momentan wirkt er auf hohem Niveau einfach nur dick, ungelenk und irgendwie overdone. Weitere 10 Jahre mögen es richten 94(+?)/100. Und natürlich gibt es diese 100 Parker-Punkte auch für den 1990 Hermitage la Chapelle von Jaboulet-Ainé. Den hatte ich als superdichtes, perfekt strukturiertes Konzentrat schon mehrfach so im Glas, aber auch aus anderen Flaschen zu dick und zu reif wirkend, wie bei dieser Probe, wo es mit Ach und Krach noch für 95/100 reichte. Gibt es da unterschiedliche Abfüllungen? Etwas aus dem Rahmen fiel der 1990 Domaine de Trevallon, nicht nur, weil er aus der Provence stammt, sondern auch, weil er ein Cuvée aus Syrah und Cabernet ist, bei dem der Cabernet etwas dominiert. Süße, reife Kirschfrucht, schwarze Oliven, Kräuter, Leder, Schwarzer Pfeffer, am Gaumen balanciert und immer noch durch die gute Säure recht frisch wirkend 93/100.

Mit strahlend blauem Himmel verabschiedete uns am nächsten Tag diese traumhaft schöne Bergwelt rund um Gstaad. Irgendwie passte diese einmalige Stimmung zum Jahrgang 1990. In beide könnte ich mich hemmungslos verlieben. 1990 ist ein großer Jahrgang mit hohem Spaß- und Genussfaktor. Die besten 90er haben noch ein längeres Leben vor sich und sind nach wie vor jede Suche wert. Und natürlich gehört zu einem großen Jahr und einem großen Wein auch eine große Flasche. Hat die aber Kork oder war schlecht gelagert, dann ist das wie strömender Regen in Gstaad. (wt 10/2010)