Monatsabschluss

Ungläubig starrte ich an diesem Freitag Nachmittag auf die aktuellen Wetterkarten aus dem Internet. Schlichtweg absaufen sollte der Nordwesten der Republik an diesem Wochenende.
Wochenlang hatte ich jetzt in jeder freien Minute trainiert, zwei Wochen lang den Alkohol weggelassen und stattdessen Gemüsesäfte getrunken. Ich war fit wie ein Turnschuh und bereit für die große Tour. Seit 20 Jahren fahre ich jedes Jahr Ende Juli mit dem Fahrrad nach Sylt. 600km in zwei Tagen mit dem Trekkingrad und zwei großen Satteltaschen sind kein Pappenstiel. Die gut 340km am ersten Tag bis zu meinem ersten Ziel weit hinter Bremen sind 15 Stunden harte Arbeit. Mit Dauerregen habe ich da keine Chance, vom fehlenden Spaß mal ganz abgesehen. Und Spaß sollte die Tour trotz aller Anstrengung schon machen.
Was tun? Gute Freunde wollten liebend gerne an diesem Abend mit mir ein paar schöne Weine trinken. Eigentlich keine Chance. Denen hatte ich nur gesagt, dass ich Samstag morgen um 4 Uhr aufstehe und aufs Rad steige. Da sind dann vorher mindestens 6 Stunden Schlaf angesagt und mit Sicherheit kein Alkohol. Es sei denn, die Wettervorhersage sei absolut grausam. Dann wäre ich dabei und würde nicht um vier Uhr aufstehen, sondern eher um diese Zeit ins Bett gehen. Da kam auch schon der Anruf: Du willst doch nicht tatsächlich bei diesen Aussichten .

Mit einer großen Tasche voller schönster Weine stiefelten wir in eine meiner Lieblings-Cantinas, das Restaurant Dado im Düsseldorfer Innside Hotel. Das Wetter war prächtig, die Abendtemperaturen immer noch hoch. Doch umkehren, sofort ins Bett und am nächsten Morgen aufs Rad? Zu spät.

Dado Chefkoch Yves Deval-Block kochte an diesem Abend auf, als seien wir beim Michelin für die Verleihung des dritten Sternes zuständig. Da waren wir bei jedem der zahllosen Gänge versucht, vor Begeisterung die Teller mit zu essen. Auch unsere Weine zeigten sich von der besten Seite. Immer noch sehr jung ein 1970 Latour-à-Pomerol. Gute Farbe mit ersten, ganz dezenten Reifetönen, viel Kraft, ledrig, Kakaobohnen, leicht portig, immer noch Tannin ohne Ende, nur ganz dezente Süße, würzig, ein völlig unterschätzter Wein, der wohl erst in 10 Jahren richtig kommt 92+/100. Deutlich reifer und auf dem Punkt wirkte 1974 Sebastiani Cabernet Sauvignon Proprietor s Reserve. Immer noch superdichte Farbe mit ersten Orangentönen am Rand. Minznase, massig Eukalyptus, aber auch Lakritz. Am Gaumen bei aller Fülle so unglaublich fein. Kein überalkoholischer Hammer, wie die heutigen Kalifornier, da war totale Harmonie angesagt, ein großer Wein, der am Gaumen gar nicht mehr aufhörte 95/100. Mit Kaliforniern aus dem Ausnahmejahr 1974 kann man nichts falsch machen. Beim nächsten Wein war ich mir sicher, das musste Latour sein, zu sehr erinnerte er in seiner trüffeligen Art mit der leicht bitteren Walnussnote an 78 Latour in seinen besten Zeiten. Ein feiner Wein mit sehr guter Struktur, dabei angenehm weich, reif und mit dezentem Schmelz. Erst ganz zum Schluss baute er leicht ab. Unglaublich, wie sich dieser 1978 Les Forts de Latour gehalten hatte, der in dieser Form keinen Deut hinter dem Grand Vin zurücksteht 92/100. Und dann noch mal 1978 vom Feinsten, diesmal wieder aus Kalifornien. Bei diesem 1978 Mondavi Cabernet Sauvignon Reserve war schon die traumhafte Nase ein großes Erlebnis. So eine geile Mischung aus Cassis, Minze und Eukalyptus. Auch am Gaumen ein faszinierender Wein, komplex, vielschichtig und sehr lang, sicher noch mit Potential für etliche Jahre 95/100. Wohl dem, der davon noch hat.

Und dann kam die eigentliche Überraschung des Abends. Rätselraten kam Tisch. War das Cheval Blanc? Und wenn ja, welches Jahr? Auf 90 Cheval Blanc einigten sich meine Freunde. Ähnliche Überraschungen habe ich mit älteren Weinen immer wieder erlebt. Sehr dichte und deutlich jünger wirkende Farbe. In der feinen Nase Kaffee ohne Ende und jede Menge Röstaromen. Am Gaumen Kraft und Länge, so fleischig und doch sehr elegant und finessig. Der tänzelte wirklich auf der Zunge wie ein großer Cheval Blanc, sicher nicht wie der eher exotische 90er, eher wie einer der Super-Chevals aus der ersten Hälfte der Fünfziger Jahre. Und doch war es "nur" ein namenloser 1950 St. Emilion in einer namenlosen deutschen Tesdorp-Abfüllung, für kleines Geld vor etlichen Jahren auf einer Auktion erworben, ein absoluter Wahnsinnswein 98/100. Die Flasche selbst war in gutem Zustand, Top Shoulder mit Originalkork. Wahrscheinlich war sie nie bewegt worden und hatte über 50 Jahre in einem kühlen Keller gelegen. Das ist der große Vorteil einfacherer Weine. Wenn sie nicht früh getrunken werden, vergisst man sie im Keller. Die landen nicht als Wanderpokale auf Auktionen und gehen von Besitzer zu Besitzer. Verkauft wird ein solcher Wein eigentlich überhaupt nur, wenn irgendwo Erben den Nachlass auflösen und Kasse machen. Und wie ist so eine Qualität möglich? Heute besteht die Gefahr nicht mehr, bei einfacheren Handelsweinen auf Premier Cru Qualität zu stoßen. Aber in den nicht gerade mit großer Nachfrage und viel Geld gesegneten Nachkriegsjahren haben auch namhafte Chateaus Fässer an Handelshäuser verkauft. Damit ist jetzt nicht automatisch jede Händlerabfüllung aus der damaligen Zeit großer Stoff. Der überwiegende Teil ist sicher eher von bescheidenerer Qualität, wenn auch sicherlich dramatisch besser als heute. Aber es finden sich immer wieder großartige Ausnahmen, und Wagemut wird wie an diesem Abend belohnt. Noch dazu aus meinem Geburtsjahr, da dachte ich längst nicht mehr an mein Rad.
Interessant war der Vergleich zum nächsten Wein, einem richtigen Cheval Blanc, allerdings nicht aus der besten Phase dieses Gutes. Ein etwas zwiespätltiger Wein war dieser 1970 Cheval Blanc. Feine, rauchige Nase, in die sich auch etwas störende, grüne Töne mischten. Am Gaumen eine ungewöhnliche Mischung aus scharzer Herrenschokolade, reifen Champignons und Unterholz. Klar war da auch diese pure Seide, diese unnachahmliche, Cheval Blanc-typische Eleganz. Hin und her gerissen waren wir bei diesem Wein, der mal richtig aufblitze, dann wieder in Mittelmäßigkeit verfiel und zum Schluss rasch abbaute. Macht in der Summe 93/100, die aber nur einen Mittelwert des dauernden Auf und Ab darstellen. An den unbekannten 50er kam dieser Cheval Blanc auch nicht ansatzweise ran.
Für große Weinerlebnisse bei älteren Weinen braucht es nicht nur große Weine, sondern vor allem auch große Flaschen. Das erfuhren wir schmerzhaft bei einem 1955 Domaine de Chevalier. Der hatte noch eine wunderbare Farbe und vor allem eine perfekt sitzende Kapsel. So hatte sich der Kork irgendwann unmerklich in die Flasche verabschieden können. Die Kapsel hielt die Flasche zwar dicht, aber wohl nicht komplett luftdicht. Oxidiert war der Inhalt bei einem Wein, an den ich aus diesem zuverlässigen, großen Jahrgang hohe Erwartungen gehabt hatte. Gut, dass da in meinem Keller noch ein zweite Flasche liegt.
Weit nach Mitternacht war es inzwischen und wir in allerbester Stimmung. Als letzter Wein kam ein 1971 La Mission Haut Brion ins Glas. Die rauchige Nase mit viel Tabak und etwas Teer zeigte auch einen Hauch frische Meeeresbrise mit Austern, Algen und hoher Mineralität. Am Gaumen viel stützende Säure, wieder massig Tabak, komplex und lang. Wird sich sicher in der 1tel noch lange Jahre halten, aber sicher langsam abbauen, also bald trinken 94/100.

Immer noch perfekt und ziemlich warm war das Wetter, als im gegen 2 Uhr nachts zuhause landete. Hatte ich etwas falsch gemacht? In zwei Stunden hätte ich jetzt auf dem Rad Richtung Sylt sitzen können. Eine Stunde später riss mich tosender Lärm aus dem Tiefschlaf. Die Schleusen des Himmels hatten sich geöffnet, und es goss die nächsten 5 Stunden wie aus Kübeln. Am nächsten Morgen brachte mich dann bei wolkenverhangenem, regnerischem Wetter die Luftfahrtgesellschaft Walter schnell und komfortabel von Düsseldorf nach Sylt. Die beginnende Weisheit des Alters hatte viel zu selten über den immer noch reichlich vorhanden, jugendlichen Leichtsinn gesiegt. Und wie ein Fingerzeig Gottes, das doch öfter so zu handhaben, empfing mich Sylt mit herrlichem Sonnenschein. Die Nordseeinsel, deren Wetter selten etwas mit dem Festland zu tun hat, präsentierte sich an diesem Wochenende nicht nur von der allerbesten Seite. Sie war auch so ziemlich der einzige trockene Ort zwischen hier und Düsseldorf.

Drei Wochen Jahresurlaub auf dieser Trauminsel liegen jetzt vor- und bald schon wieder hinter mir. Was dort so ins Glas kam, steht dann bald als Sylter (W)Eindrücke auf dieser Website, einen kleinen Vorgeschmack gibt es jetzt schon.