1960

Wieder so ein absolutes Mist-Jahr, in dem bloß noch der Griff zum Portwein oder – noch schlimmer – zum Jahrgangs-Armagnac bliebe, gäbe es da nicht doch ein paar kleine Weinwunder.

Späte Fröste gab es in Bordeaux. Auf einen warmen Juni folgte dann ein kalter, regnerischer Sommer. Erst Mitte Oktober wurden dann leichte, fruchtige, früh trinkbare Weinchen geerntet, die in der Regel längst das Zeitliche gesegnet haben.

Eine helle, bräunliche Farbe hatte Lynch Bages 2008 auf René Gabriels großer Lynch-Probe. Sehr medizinal die etwas anstrengende, leicht modrige Nase, Liebstöckel ohne Ende, hielt sich auf niedrigem Niveau erstaunlich gut im Glas und war immer noch trinkbar – 80/100. Faszinierend 2007 auf Sylt ein Mouton Rothschild. Was da aus einer sehr gut erhaltenen, nie gereisten Flasche ins Glas kam, war schier unglaublich. Irre Farbe mit kaum Reifetönen, eine wunderbare Nase mit Zimtpflaumen und einem Schuss Minze, am Gaumen Minze ohne Ende und auch etwas stahlige Frucht. Hielt sich sehr gut im Glas und zeigte eine schöne Länge am Gaumen. Was für ein Irrsinnswein für diesen Jahrgang – 94/100.

Einer der schöneren, überlebenden Bordeaux war Beychevelle, 1993 und 94 zweimal aus der Magnum getrunken. Ein reifer, weicher, sehr charmanter Wein, im Abgang etwas kurz geraten und auch inzwischen etwas kurzatmig. Nach einer Stunde im Glas verabschiedete er sich langsam. Könnte trotzdem aus größeren Flaschen noch Spaß machen – 85/100.

Kaum glauben konnte ich 1996 auf einer Drawert-Probe, dass da ein 60er im Glas sein sollte. Eine dichte, schöne Farbe hatte dieser Cissac, dazu einen hohen Extrakt und eine beachtliche Länge am Gaumen – 91/100. Ein Jahr später bekam ich dieses 60er Wunder noch einmal blind bei Willi Krähling vorgesetzt, Kokosduft, dicht, unglaublich jung, aber auch streng mit stahliger Frucht, für den Jahrgang einfach unglaublich, großes Teil - 94/100. Ich weiß, das klingt unglaublich, aber der Wein war echt und ich in meiner Bewertung nicht allein. Und anscheinend lebt dieser Wein ewig, denn 2014 hatte sich meine letzte Flasche noch nicht verändert – WT93.

Erstaunlich schön auch 2007 Margaux, zwar eher ein kleiner, aber dafür sehr feiner, eleganter und schön zu trinkender Wein ohne richtige Schwächen – 86/100.

Haut Brion war 2012 erstaunlich schön, Kaffee und Cappucino in Nase, am Gaumen gute Säure, die Frische und Fruchtreste vortäuscht – 87/100. La Mission zeigte 2011 einmal mehr die beständige Qualität dieses Chateaus. Gut, das war kein Hammerwein, kein Blockbuster. Wo sollte der auch herkommen. Ein leichter Stinker war in der Nase und etwas nasser Hund, der Gaumen relativ schlank. Aber insgesamt war das ein feiner, kleinerer, sehr harmonischer und schön zu trinkender La Mission ohne Alterstöne – 90/100.

Dünn, leichtgewichtig 2008 ein Cheval Blanc, dessen helle Farbe einen deutlichen Wasserrand zeigte. Doch war dieser etwas lakritzig wirkende Wein gut trinkbar und hielt sich stabil im Glas – 78/100.

Gülden, mit etwas strenger Honignase, auch am Gaumen spürbare Süße 1996 der Y von Chateau d´Yquem – 84/100.

Trotz anfänglicher Fröste und kaum nachlassendem Regen gab es in Burgund eine große Ernte unreifer Trauben. Da wurde dann chaptalisiert auf Teufel-komm-raus, was in manchen Fällen sogar für Überraschungen gesorgt hat. Insgesamt galt es zwar für Burgund als ein grausames Jahr. Ich habe trotzdem einige schöne Weine gefunden.

Noch so ein kaum-zu-glauben-Wunder ist der Romanée St. Vivant von Doudet-Naudin. 1997 bei Jürgen Drawert probiert - dichte Farbe, dicht und komplex, sehr lang, noch viel Potential, wunderbar 94/100 – und spontan gekauft. Seither noch dreimal getrunken, 2003 auf Sylt mit Jörg und Barbara Müller, ein absolut kompletter, grandioser Burgunder – 95/100. Zuletzt 2010 immer noch sehr jung, auch in der dichten Farbe, ein 30 Jahre jünger wirkendes Powerhouse mit gewaltiger Struktur und süßer Frucht, erinnert schon an jüngere Rhone Weine - 94/100. Deutlich reifer, aber nicht minder begeisternd 2010 ein Corton Cuvée Dr. Peste vom Hospice de Beaune, in der ausdrucksstarken Nase Mokka pur und viel Kaffee, am eleganten Gaumen reichlich süßer Schmelz – 94/100. Ein großer, kompletter Burgunder war 2015 in Halle „M“ und im Sommer auf Sylt noch einmal der von Patriarche abgefüllte Hospice de Beaune Cuvée Hugues et Louis Bétault von Patriarche mit betörendem, süßem Schmelz, sehr würzig, druckvoll, einfach burgundische Pracht und Fülle auf hohem Niveau – WT96. 2021 ein Wein mit viel Kraft und Druck, mit großartiger Struktur und enormer Länge am Gaumen, natürlich auch mit feinem Schmelz – WT95. 2007 dann ein Clos de Tart Mommessin, Mit sehr reifer Farbe zwar, aber mit unglaublich vielschichtiger Nase, so fein, soviel Druck am Gaumen, so unglaublich lang, ein Traumstoff – 96/100. Wissen muss man nur, dass es die Winzer früher in schwachen Jahrgängen nicht immer so ganz genau mit dem Inhalt nahmen, wenn der Vorgängerjahrgang außergewöhnlich war. So, wie die Vorväter schwächeren Gewächsen mit dunklerem Zeugs von der Rhone auf die Sprünge halfen, wurde schon mal der Nachfolgejahrgang mit dem Vorläufer aufgebessert. So war in dieser Flasche sicherlich ein Gutteil 59er mit drin. Süß und reif mit feinem Schmelz war 2015 der Chambolle-Musigny von Louis Serrignon, der allerdings mit der Zeit im Glas etwas abbaute – WT90. Deutlich besser, kräftiger, mit mehr Standvermögen 2016 auf Sylt die zweite Flasche – WT92. Der Grands Echezeaux von Louis Serrignon war 2016 zwar reif, zeigte aber noch erstaunliche Kraft, Struktur und tolle Länge. Kein Schmuseburgunder, eher etwas straffer gewirkt – WT92.

In Deutschland wurde der Jahrgang „Überläufer“ getauft. Und in der Tat liefen die Keller der Winzer über nach einer riesigen Rekordernte. Leider war es aber meist dünne, kurzlebige Brühe. Masse statt Klasse. Da dürfte kaum noch etwas Trinkbares zu finden sein.

Hoffnung gibt es für 1960 Geborene aus Spanien. In Rioja galt 1960 als gutes Jahr. Ich hatte bisher nur den Marques de Murrietta Reserva getrunken, der sich 1988 und 92 als perfekt gereift ohne jeden Alterston präsentierte – 90/100. Stand 2008 bei Jörg Müller auf Sylt wie eine Eins im Glas, in gut gelagerten Flaschen sicher noch sehr lange haltbar - 92/100. 2007 auf René Gabriels großer Spanien-Probe hatte der Etiqueta Blanca von Marques de Murrieta eine dichte, deutlich jünger wirkende Farbe als der 80er vom Vortag und war auch am Gaumen kräftiger, voller und aromatischer mit nur dezenten, oxidativen Noten und etwas kurzem Abgang – 83/100. Etwas mager CVNE Imperial Gran Reserva, ein Wein, den man noch trinken kann, aber auch weglassen kann, ohne allzu viel zu verpassen – 83/100. Marques de Riscal Reserva hatte auf dieser Probe zwar noch eine dichte Farbe und auch eine gute Länge am Gaumen, er wirkte aber gleichzeitig auch schon etwas gezehrt und austrocknend. Für mich hat dieser Wein seine besten Zeiten bereits hinter sich – 89/100. Gut trinkbar 2001 auf der Unico-Probe auch der Vega Sicilia Unico, brilliante Farbe, sehr fein, elegant, feine rote Beeren, aber auch kräftige Säure, entwickelt schönen Minzton, aber am Gaumen leider auch Schärfe – 88/100. 2017 aus der Magnum erstaunlich vital noch mit ziemlich junger Farbe mit feiner Kaffee-/Kräutermischung in der Nase, am Gaumen gute Mineralität, viel Druck und kräftige Säure – WT95. 2022 ungewöhnlich süß, wie Mon Cherie gefüllt mit Mokkalikör, aber konnte das ein 60jähriger Unico sein? Trotzdem WT97. Sehr gewöhnungsbedürftig und überhaupt nicht für schnellen, unkritischen Genuss geeignet der 1997 verkostete YGAY Blanco Gran Reserva von Marques de Murrietta. Die Farbe geht schon in´s Güldene, zu Anfang verschwitzte Wäsche, etwas oxidativ, sehr kräftig, aber auch intensive Säure, entwickelte sich, obwohl 2 St. vorher dekantiert, den gesamten Abend im Glas weiter ohne abzubauen und machte sich prächtig zwischen den großen Rotweinkalibern - 88/100, für die Kuriosität auch noch 3-4 mehr.

Ein gewaltiger Wein, eine tiefgründige, komplexe Aromenbombe mit sehr langem Abgang war 2012 aus dem Libanon der Musar - 97/100. Zuletzt Ende 2013 auf René Wagners großer Musar-Vertikale fast altersfreie, in der Nase mineralisch mit viel Tabak und Zedernholz, am Gaumen sehr schön und stimmig, der Pessac aus dem Libanon – WT95.

1960 galt in Kalifornien als gutes Weinjahr und Inglenook zusammen mit Charles Krug als Jahrgangsspitze. Und genau den, einen Inglenook Cabernet Sauvignon Cask A1, brachte Michael Unger 2008 zur Prowein mit. Dichte Farbe, reif, sehr weich, erstaunlicherweise weder Eukalyptus noch Minze, baute wunderbar im Glas aus und wurde immer fülliger und aromatischer, ein sehr lebendiges Stück kalifornischer Weingeschichte – 93/100. Ein Heitz Cabernet Sauvignon war 2020 mit dichter Farbe sehr minzig, ledrig und guter Strultur noch voll da – WT96.

Eigentlich kein übler Wein war der Penfolds Grange 1999 auf der Grange-Probe in Lehrbach. Leider gewann aber die Säure schnell Überhand – 85/100.

Gilt eigentlich als gutes Portweinjahr in dem alle namhaften Häuser Vintage Ports erzeugten. Ich fand die wenigen, bisher getrunkenen 60er Ports fast alle reif mit wenig Biss.

Gut gefiel mir 2012 auf Sylt der Cockburn, eingelegte Rum-Kirschen, dunkle Malkaramellen, immer mehr Marzipan, gute Struktur – WT94. Überzeugte an gleicher Stelle auch 2016 wieder mit generöser Süße – WT94. Sehr reif und weich war 1993 der Fonseca – 90/100. Ebenfalls weich, voll ausgereift, etwas brav war 1995 der Quinta do Noval – 88/100. Mit heller Farbe, spritig, wenig Süße, schon sehr weit, nicht mein Ding, 1995 der Taylor – 82/100. Bei letzterem muss ich mich wohl deutlich korrigieren. Eine Flasche Taylor im Juli 2004 auf einer Probe in der Schweiz war flüssiges Marzipan, ganz toller Port – 95/100.